Samstag, 20. April 2024
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Medizin

Künstliche Intelligenz – Hoffnung für viele Menschen mit seltenen Erkrankungen?

von Dr. rer. nat. med. habil. Eva Gottfried

Künstliche Intelligenz – Hoffnung für viele Menschen mit seltenen Erkrankungen?
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In Deutschland leiden schätzungsweise 4 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Laut europäischer Definition tritt jede einzelne bei maximal 5 von 10.000 Menschen auf, in der Summe ist die Zahl der Patient:innen dann aber doch hoch. Bei den meisten der bisher beschriebenen seltenen Erkrankungen handelt es sich um angeborene Stoffwechselerkrankungen oder Hormonstörungen mit komplexem Phänotyp, die unbehandelt zu schweren Fehlfunktionen und verfrühtem Tod führen können. Bekannte Beispiele sind Cystischen Fibrose (CF, Mukoviszidose), Sichelzellkrankheit und spinale Muskelatrophie (SMA). Viele andere seltene Erkrankungen sind noch unzureichend charakterisiert (1).

Seltene Erkrankungen: 5 Jahre und 8 Ärzt:innen bis zur Diagnose

Ein Großteil der seltenen Erkrankungen wird bereits im Kindesalter diagnostiziert, wozu auch das Neugeborenen-Screening beiträgt, das inzwischen 19 seltene Erkrankungen testet. Für spätere Diagnosestellungen sind klinische Symptome wegweisend, auch ungewöhnliche Symptomkombinationen oder ein Fortschreiten der Symptome trotz Therapie sind auffallend. Nachdem die Mehrzahl der bekannten seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind, tragen auch Gen-Panelanalysen und Whole-Exome-Analysen der molekularen Diagnostik zur Diagnosebei. Problematischer wird es bei Erkrankungen, für die (noch) keine genetischen Veränderungen bekannt sind. So dauert es im Schnitt 5 Jahre mit Konsultation von durchschnittlich 8 Ärzt:innen, bis Betroffene ihre Diagnose erhalten. Eine schnellere Versorgung wäre nicht nur für die einzelnen Patient:innen, sondern auch von gesundheitsökonomischer Seite her ein enormer Fortschritt (2). Um neue Möglichkeiten auszuschöpfen wird zunehmend daran gearbeitet, Künstliche Intelligenz (KI) zur Verbesserung und Optimierung der Diagnostik zu integrieren, erklärt Prof. Dr. med. Julia B. Hennermann, die Leiterin der Sektion Pädiatrische Stoffwechselerkrankungen, Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendmedizin, Universitätsmedizin Mainz.
 
 

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Künstliche Intelligenz soll Ärzt:innen nicht ersetzen, sondern unterstützen

Eine ganze Reihe von Projekten weltweit arbeitet daran, die Labordiagnostik und Bildgebung durch KI zu verbessern. Prof. Dr. Martin Hirsch vom Institut für Künstliche Intelligenz am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg/Universitätsklinikum Marburg möchte mithilfe von KI nicht nur eine bessere Datennutzung erreichen, sondern auch KI-Systeme und Apps für die Patient:innen selbst nutzbar machen. Ein Beispiel ist die Gesundheits-App Ada (3). Dabei geht es nicht darum die Arzt:innen zu ersetzen, sondern nur die Diagnosestellung von Seiten der Betroffenen zu unterstützen, erklärt er. Für die neuen Systeme sind Smart Machines nötig, die Machine Learning und Patient:innendaten zum Trainieren der KI kombinieren. Bisherige KI-Systeme sind wissens-, ontologie- und regelbasiert. Zukünftige KI-Systeme müssten laut Prof. Hirsch als sogenannte probabilistische Systeme verstärkt Wahrscheinlichkeiten einbeziehen und mehr API-Schnittstellen zum besseren Informationsaustausch integrieren.

GestaltMatcher analysiert Phänotyp, um seltene Erkrankungen zu entdecken

Auch Prof. Dr. med. Dipl. Phys. Peter Krawitz vom Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik am Universitätsklinikum Bonn arbeitet bereits an einer konkreten KI-Anwendung für die Medizin. Zur Entwicklung des GestaltMatcher nutzt er eine Phänotyp-Analyse (4), weil sich viele genetische Veränderungen bei seltenen Erkrankungen nicht nur in körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen äußern, sondern auch in charakteristisch geformten Gesichtsmerkmalen. Die KI des GestaltMatcher nutzt Charakteristika wie den Nasenansatz, die Wangen oder die Augenbrauen, um Ähnlichkeiten der Erkrankten zu berechnen und mit klinischen Symptomen zu verknüpfen. Eine Herausforderung sind noch die kleinen Patient:innenzahlen der einzelnen seltenen Erkrankungen, sodass internationale Zusammenarbeit für die Entwicklung ein wichtiger Punkt ist.

Seltene Erkrankungen als Innovationstreiber

Die schwierige Diagnosestellung bei seltenen Erkrankungen zwingt dazu, die Betroffenen noch differenzierter zu betrachten. Hierzu bedarf es neuer diagnostischer Möglichkeiten, weshalb die seltenen Erkrankungen auch als Ideengeber und Innovationstreiber von Bildgebung und Labordiagnostik wirken. Dabei darf der Mensch nicht vergessen werden, sagt Prof. Dr. med. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Gießen/Marburg. Er unterstützt die Idee einer Kümmerer-Station für Betroffene, die das Gefühl haben, dass ihr Einzelfall, trotz all der Innovationen nicht vorankommt.
 
 

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Versorgungsmehraufwand seltener Erkrankungen muss sich abbilden lassen

Die Komplexität der seltenen Erkrankungen bedarf einer disziplin- und sektorenübergreifenden Versorgung, erklärt Dr. C. Mundlos, Leiterin und Lotsin bei der Allianz chronischer seltener Erkrankungen (ACHSE) (5). So gilt es Brücken zu bauen zwischen den klinikassoziierten Zentren für seltene Erkrankungen und den niedergelassenen Ärzt:innen, die letztlich die langfristige Nachsorge übernehmen. Dabei fordert sie auch eine Abbildbarkeit und angemessene Vergütung des Mehraufwands bei der Versorgung der Betroffenen, was neben diagnostischen Tools insbesondere mehr Personal erfordert. 
Quelle
Digital-Symposium: „Seltene Erkrankungen - Kann KI die Gesundheitsversorgung hierfür grundlegend verändern?", 30.11.2022, Online-Event, Veranstalter WISO S.E. Consulting GmbH.
Mit Unterstützung von Biogen, Pfizer, Sanofi, GSK, IPSEN, Janssen, Roche, Takeda, ucb

Sprecher:innen
Dr. med. Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin von ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen)
Prof. Dr. Martin Hirsch, Universitätsklinikum Marburg, Mitbegründer und leitender wissenschaftlicher Berater der Ada Health GmbH
Herr Prof. Dr. med. Jürgen Schäfer, Zentrum für unerkannte seltene Erkrankungen (ZUSE), Marburg
Prof. Dr. med. Dipl. Phys. Peter Krawitz, Leiter des Instituts für Genomische Statistik und Bioinformatik, Universität Bonn
Frau Prof. Dr. med. Julia B. Hennermann, Leiterin der Sektion Pädiatrische Stoffwechselerkrankungen und Speicherkrankheiten (Villa Metabolica).

Moderiert von Wolfgang van den Bergh, Springer Medizin Verlag GmbH
Literatur:

(1)    Orphanet: Das Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs. (zuletzt aufgerufen 11.12.2022)
(2)    Rillig, F. et al., Interdisziplinäre Diagnostik bei seltenen Erkrankungen, Ergebnisse aus dem Projekt Translate-NAMSE. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 469-75;
(3)    Kahl, K., Ada: Künstliche Intelligenz als Diagnosehilfe, Dtsch Arztebl 2018; 115(45): A-2082 / B-1728 / C-1706
(4)    GestaltMatcher
(5)    Alliance Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Den Seltenen eine Stimme geben. Ärzte und Therapeuten vernetzen und unterstützten



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