Hypertonie-Leitlinien in der Kritik: Zu umfangreich und praxisfern
Nationale und internationale Hypertonie-Leitlinien gelten als zu umfangreich und im Praxisalltag nur bedingt umsetzbar. Eine Umfrage unter 437 Ärzt:innen zeigt: Die Implementierung ist mit zahlreichen organisatorischen und technischen Hürden verbunden und scheitert häufig an fehlender Zeit, mangelnden Ressourcen und fehlendem Praxisbezug. Die Umfrage, die auf dem Deutschen Hypertonie Kongress 2025 in Heidelberg vorgestellt wurde, macht zudem deutlich, dass die Patientenperspektive in Hypertonie-Leitlinien stärker berücksichtigt werden sollte [1].
S3-Leitlinie als zentraler Standard mit Schwächen
Die Empfehlungen klinischer Leitlinien sollen zu einer standardisierten und zeitgemäßen medizinischen Versorgung und Behandlung beitragen. Insbesondere die S3-Leitlinie Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Hypertonie, die von 21 medizinischen Fachgesellschaften und Organisationen erarbeitet wurde, ist von vielen Ärzt:innen in Deutschland als zentrale Leitlinie akzeptiert. Sie legt unter anderem die Standardbehandlung in der hausärztlichen Versorgung fest und bietet evidenzbasierte Entscheidungshilfen – etwa zur korrekten Blutdruckmessung und zu geltenden Zielwerten.
Umfang der Leitlinien überfordert Praxisalltag
Die seit 2023 geltende NVL ist jedoch sehr umfangreich: Sie umfasst in der Kurzfassung 45 und in der Langfassung 119 Seiten. Daneben gibt es für Medizinerinnen und Mediziner zwei europäische und sogar eine kürzlich publizierte amerikanische Leitlinie. „Diese Fülle an Vorgaben kann nur sehr begrenzt rezipiert, differenziert betrachtet und individuell umgesetzt werden“, kritisiert Prof. Dr. Markus van der Giet, Vorsitzender der Deutschen Hochdruckliga. „Konkrete Fragen wie ‚Was muss ich in der Diagnostik unternehmen?‘, ‚Wie sieht die medikamentöse Behandlung aus?‘ und ‚Wie kontrolliere ich die Patientinnen und Patienten?‘ werden darüber hinaus häufig nicht klar beantwortet.“
Patientenperspektive wird vernachlässigt
Zwei Drittel (67%) der 437 befragten niedergelassenen Ärzt:innen geben an, dass die Leitlinien zu umfangreich seien, jeder Zweite (52%) findet sie zu praxisfern. Die von Juli bis Oktober 2024 bundesweit durchgeführte Befragung zeigt zudem, dass in den geltenden Leitlinien zu wenig berücksichtigt wird, wie Patient:innen die Empfehlungen im Alltag umsetzen können.
So empfehlen die Leitlinien beispielsweise eine salzarme Ernährung, viel Bewegung und den Verzicht auf Alkohol. „Die Betroffenen sollen ihren Lebensstil ändern, ohne konkrete Angebote, wie das gelingt", so Prof. van der Giet. Diesen Mangel auszugleichen, wird zur Aufgabe von Fachgesellschaften wie der Deutschen Hochdruckliga, resümiert der Vorstandsvorsitzende.
Quelle:Deutsche Hochdruckliga e.V. (DHL)
Literatur:
- (1)
van der Giet M. et al. (2025) Umsetzung klinischer Leitlinienempfehlungen zu kardiovaskulären Erkrankungen in deutschen Hausarztpraxen – Ergebnisse einer Praxisbefragung. MMW Fortschritte der Medizin, Jg. 167, 26. November 2025, Supplement 5, Abstracts zum 49. Deutschen Hypertonie Kongress „Hypertonie – mittendrin!“ der Deutschen Hochdruckliga e. V. DHL® – Deutsche Gesellschaft für Hypertonie und Prävention, S. 17.