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Schwerpunkt Juni 2022
Interview mit PD Dr. med. Ute Seeland

Warum brauchen wir Geschlechter-sensible Medizin?

Warum brauchen wir Geschlechter-sensible Medizin?
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Gesundheit und Krankheit entstehen in einem Feld komplexer Wechselwirkungen zwischen biologischem Geschlecht und gesellschaftlich-kultureller Dimension von Geschlecht. Die Herausforderung ist es, dies zu erforschen und in ärztliches Handeln umzusetzen. Lesen Sie das Interview mit PD Dr. med. Ute Seeland von der Charité - Universitätsmedizin Berlin, Fachärztin für Innere Medizin und Expertin für Geschlechter-sensible Medizin.
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Was sollten hausärztlich tätige Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Sicht über Geschlechter-sensible Medizin wissen?

Bei der Geschlechter-sensiblen Medizin handelt es sich um einen systembiologischen Ansatz zur Erforschung von Gesundheit und Krankheit. Dieser Blick aufs System ist wichtig, um Zusammenhänge und gegenseitige Interaktionen von Genetik, Hormonen, Stoffwechselwegen und den von außen einwirkenden Umweltfaktoren bei der Entstehung von Krankheiten zu verstehen. Zum Beispiel ist es sinnvoll auf das Herz-Kreislauf-System und seine Regulation zu schauen und nicht „nur“ auf die Erkrankung Herzinfarkt oder Kardiomyopathie.
Betrachtet man das System versteht man viel besser, warum Sport zum Beispiel einen positiven Einfluss haben kann, oder warum es im Alter schwierig ist, Muskeln aufzubauen und was dies wiederum für die Herzfunktion bedeutet oder wie die Verschaltung mit dem Gehirn das kardiovaskuläre Risiko beeinflusst. Klar ist auch, dass das Alter – und hier ist das biologische, nicht das chronologische Alter gemeint – die (Patho-)Physiologie beeinflusst. Es reicht also nicht aus, wissenschaftliche Studien nach Frauen und Männern getrennt auszuwerten. Das sollte inzwischen selbstverständlich sein.

Wie wichtig ist der Gender-Aspekt in der Geschlechter-sensiblen Medizin?

Gender oder, auf deutsch, das soziokulturelle Geschlecht ist sehr wichtig in der Medizin, denn es beeinflusst die Gesundheit bzw. das Gesundheitsverhalten. Gender umfasst neben der eigenen Geschlechtsidentität auch die gesellschaftlichen Erwartungen sowie Lebensstil, Verhalten, Lebenserfahrung und den Einfluss der Umwelt. Das betrifft sowohl uns Ärzt:innen als auch die Patient:innen. Daher ist es wichtig, auch die eigene Geschlechterrolle kritisch zu reflektieren, um professionell Gender-sensibel agieren zu können. Im ersten Schritt sollten Stereotypen auf persönlicher Ebene bewusst gemacht werden, sowohl auf ärztlicher als auch auf Seite der Patient:innen, um diese in einem zweiten Schritt abzubauen.
 
 

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Wie könnte das praktisch in der Hausarztpraxis aussehen?

Nehmen wir als Beispiel ein Erstgespräch. Zunächst einmal geht es darum, sich selbst zu hinterfragen, wie gehe ich bisher vor, wenn ich einen neuen Patienten oder eine neue Patientin vor mir habe – was für ein Raster lege ich an? Welche Eindrücke und Aussagen interpretiere ich, beziehungsweise ordne ich wie ein?
Ich selbst frage meine Patient:innen immer, wie sie angesprochen werden wollen. Die Anrede oder die Pronomen (sie/er/they) sind heutzutage für viele Menschen sehr wichtig. Ich frage auch nach, ob sich die Person in ihrem Geschlecht und ihrer Geschlechterrolle wohl fühlt. Personen, die sich mit ihrer Genderidentität auseinandersetzen, wissen das sehr zu schätzen.
Weiter möchte ich im Erstgespräch herausfinden, wie die Person mit Gesundheit und Krankheit umgeht, welche Ängste gegebenenfalls vorhanden sind, wie das Selbstbewusstsein und auch wie der Kommunikationsstil ist. Wo muss ich eher nachhaken oder auch weniger nachfragen?
Diese Anamnese- oder Fragetechniken müssen natürlich in bestimmte – möglichst Geschlechter-sensible – Vorstellungen von Erkrankungen, Symptomen und Diagnosen und Differenzialdiagnosen eingebettet sein.

Haben Sie noch ein Beispiel, das die Behandlung betrifft?

Nehmen Sie zum Beispiel eine Patientin mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko und neu aufgetretener Dyslipidämie  (Fettstoffwechselstörung, meist zu hoher Cholesterinspiegel) mit einer klaren Indikation für ein Statin. Damit ergibt sich für mich folgendes Problem: Die Leitlinien geben Zielwerte an, die sich nach dem kardiovaskulären Risikoprofil der Person richten.Ich weiß jedoch, dass vor allem Frauen häufiger eine Statinintoleranz aufweisen als Männer und mir ist bekannt, dass meine Patientin dieser medikamentösen Therapie kritisch gegenübersteht.
All dies werde ich mit der Patientin besprechen und versuchen, mit ihr eine Lösung zu finden, die so aussehen könnte, dass sie ein gut verträgliches Statin zunächst einmal in niedriger Dosierung einnimmt, das dann in folgenden Terminen langsam höher dosiert wird und parallel die Motivation zu mehr Bewegung bzw Sport erfolgt. Viele Frauen möchten selber aktiv werden, um ihre Gesundheit zu erhalten und dadurch evtl. höhere Dosierungen zu vermeiden. Das wäre auf jeden Fall besser als gar kein Statin einzunehmen. Und dann sehen wir weiter.
Es gibt eben nicht nur „schwarz“ oder „weiß“ in der Medizin, wie wir das oft gelernt haben – wir müssen offen sein und die Spielräume ausloten.
 
 

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Sprengt ein solches Vorgehen nicht den zeitlichen Rahmen, der in der Hausarztpraxis zur Verfügung steht?

Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, sich vor allem beim Erstgespräch Zeit zu nehmen, um die eben geschilderten wichtigen Dinge zu erfahren. Denn dadurch haben sowohl die Patient:innen als auch die Ärzt:innen auf lange Sicht mehr Erfolg. Die weiteren Gespräche können ja in der üblichen Taktung erfolgen. Und auch die KV hat die Wichtigkeit von Gesprächen erkannt und entsprechende Ziffern erst kürzlich aufgewertet.
 
Ute Seeland
PD Dr. Ute Seeland

PD Dr. Ute Seeland ist Fachärztin für Innere Medizin und hat sich als erste Person in Deutschland an der Charité-Universitätsmedizin Berlin im Bereich Innere Medizin/ Geschlechtersensible Medizin habilitiert.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind die kardiovaskuläre- und die Versorgungs-Forschung sowie Prävention und die Entwicklung neuer geschlechtersensibler Lehrkonzepte. Sie ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM) und Vorsitzende der AG28 „Gendermedizin in der Kardiologie“ der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK).
 

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