MIGRA-MD: Migräne-Versorgung wird mit über 5 Millionen Euro gefördert
Birgit Frohn Dipl. biol.Anfang Juni startet das bislang größte Versorgungsprojekt zur Optimierung der Migränebehandlung innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung. Initiiert von der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) und gefördert mit 5,3 Millionen Euro, verfolgt das Projekt das Ziel, in den kommenden vier Jahren zentrale Versorgungslücken für Betroffene systematisch zu schließen.
Versorgungsrealität: Zwischen Bedarf und begrenzten Ressourcen
Migräne zählt zu den häufigsten Kopfschmerzerkrankungen. Nach Angaben der DMKG sind rund 10-15% der deutschen Bevölkerung betroffen. Für die Betroffenen bedeutet das erhebliche Einschränkungen im Alltag – beispielsweise durch eine verminderte Leistungsfähigkeit im Beruf. Doch Migräne ist mehr als nur „starker Kopfschmerz“: Sie birgt laut PD Dr. med. Ruth Ruscheweyh von der Kopfschmerzambulanz der Neurologischen Klinik der LMU München „eine große Gefahr der Chronifizierung“. Häufig treten zudem zahlreiche Komorbiditäten auf [1].
Trotz vorhandener und wirksamer Therapiemöglichkeiten besteht weiterhin ein erheblicher Mangel an adäquater Versorgung. Dr. Ruscheweyh ergänzt: „Weiterhin sehen wir, dass effektive nicht-medikamentöse Therapien nur begrenzt eingesetzt werden.“ Zu diesen bewährten nicht-medikamentösen Optionen zählen insbesondere Ausdauersport, Stressreduktion, Entspannungsverfahren sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Auch auf medikamentöser Ebene stehen effektive Behandlungsansätze zur Verfügung – sie werden jedoch laut Expert:innen bei Weitem nicht ausgeschöpft.
Der aktuelle Stand des Migräne-Managements ist damit ernüchternd. Die Versorgung könnte weitaus besser sein. „Doch es ist zu wenig Zeit für Aufklärung da“, merkt Dr. Ruscheweyh an. In der Tat ist die Liste der Themen, die im Rahmen einer umfassenden Betreuung angesprochen und erklärt werden sollten, lang – zu lang für viele Hausärztinnen und Hausärzte, die meist die erste Anlaufstelle für Migränepatient:innen sind.
Mit MIGRA-MD, das im Juni startet, wird ein Versorgungsansatz erprobt, der gezielt auf eine effektivere Betreuung von Migränepatient:innen abzielt.
Digitale Möglichkeiten besser nutzen
Digitale Plattformen bieten vielversprechende Möglichkeiten, um die Ärzteschaft zu entlasten und gleichzeitig Patient:innen umfassend über ihre Erkrankung zu informieren. Das Kopfschmerzregister der DMKG zeigt beispielhaft, wie das gelingen kann: Mit Hilfe von Kopfschmerzfragebögen, Kalendereinträgen und verständlich aufbereiteten Informationen aus der aktuellen Kopfschmerzforschung werden, so Dr. Ruscheweyh, „die Informationen an die Patienten hin“ gebracht.
Ein Ansatz, der auf Resonanz stößt: Die im Jahr 2020 gestartete DMKG-App zählt mittlerweile rund 40.000 Nutzer:innen und bindet 38 spezialisierte Zentren ein. „Dieses Konzept weitet MIGRA-MD jetzt aus“, so Dr. Ruscheweyh.
Eckdaten zu MIGRA-MD
Die Abkürzung MIGRA-MD steht für „Strukturierte fachärztliche Versorgung – multimodal und digital“.
Von der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) Deutschland initiiert und derzeit das größte Versorgungsprojekt zur strukturierten Migräne-Behandlung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit 5,3 Millionen Euro Fördergeld und 50 beteiligten Zentren.
Geleitet wird das Projekt von der LMU München, welche die Konsortialführung innehat und der DMKG, welche für die inhaltliche Konzeption zuständig ist. Zu den Kooperationspartnern gehört unter anderem die Migräne Liga e.V.
MIGRA-MD setzt sich aus mehreren Modulen zusammen, die sinnvoll ineinandergreifen und sich ergänzen.
Ziel des Vorhabens ist es, in den kommenden vier Jahren mit digitalen Tools, multimodaler Edukation und Verbesserung leitliniengerechter Therapieentscheidungen die wichtigsten Lücken in der Migräne-Versorgung zu schließen.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) fördert das wissenschaftliche Projekt aus dem Innovationsfonds.
Die neue Versorgungsform wird durch eine Studie gesundheitsökonomisch evaluiert.
Edukation für Ärzt:innen
Eine zentrale Säule des multimodalen Projekts bildet die gezielte Schulung und Qualifizierung der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte. Sie absolvieren entweder eine von der DMKG zertifizierte Weiterbildung zur leitliniengerechten Migränetherapie oder erwerben das umfassende DMKG-Zertifikat für Kopf- und Gesichtsschmerz.
Ein eigens entwickeltes Edukationsportal vermittelt dabei gezielte fachliche Kompetenzen, die sowohl die Qualität der Diagnostik verbessern als auch standardisierte Behandlungsabläufe absichern sollen. Neben medizinischen Inhalten umfasst das Curriculum laut Dr. Ruscheweyh auch physiotherapeutische Grundlagen – etwa Übungsanleitungen für Nacken- und Halswirbelsäulenbereich. Psychologische Maßnahmen wie besseres Stressmanagement, gesteigerte Selbstwahrnehmung und das Erlernen von Entspannungsverfahren ergänzen das Portfolio“, so Ruscheweyh weiter.
Ausbau der digitalen Schnittstelle zwischen Ärzt:innen und Patient:innen
Ein weiteres zentrales Element von MIGRA-MD ist die konsequente Weiterentwicklung der digitalen Infrastruktur – insbesondere der DMKG-App und des DMKG-Kopfschmerzregisters. Betroffene haben die Möglichkeit, bereits vor dem ersten Arztkontakt ihre Symptome im elektronischen Kopfschmerzkalender der App zu dokumentieren. Ergänzend können sie über einen webbasierten Fragebogen Angaben zu bisherigen Behandlungen und relevanten Begleiterkrankungen machen.
Diese Daten werden unmittelbar in das DMKG-Kopfschmerzregister überführt, auf das die behandelnden Ärztinnen und Ärzte mit patientenbezogenem Zugriff zugreifen können. Laut Dr. Ruscheweyh ermöglicht dies eine gezielte Vorbereitung auf das Anamnesegespräch – mit dem Ziel, die Diagnostik zu beschleunigen und die Therapie passgenau auszurichten.
Darüber hinaus stehen im Register evidenzbasierte Leitlinienempfehlungen zur Verfügung – etwa zur Akuttherapie, Prophylaxe, ergänzender Diagnostik oder auch zur Beurteilung des weiteren Verlaufs – und können von allen beteiligten Akteur:innen direkt eingesehen werden.
Patientenedukation soll verbessert werden
Ein zentrales Defizit in der Migräneversorgung bleibt die unzureichende Information und Anleitung der Betroffenen. MIGRA-MD begegnet diesem Bedarf mit einem digitalen Patientenportal, das unabhängig vom Standort umfassende Aufklärungs- und Unterstützungsangebote bereitstellt.
Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der nichtmedikamentösen Prophylaxe – einem zentralen, bislang häufig vernachlässigten Baustein in der Kopfschmerztherapie. „Sie ist ein wesentlicher, noch zu wenig beachteter Eckpfeiler der Kopfschmerzbehandlung“, betont Dr. Ruscheweyh. Denn psychosoziale Einflussfaktoren wie chronischer Stress, fehlende Erholungspausen, Angst vor neuen Attacken, depressive Verstimmungen oder Bewegungsmangel können die Symptomatik verstärken. „Die Umsetzung von nichtmedikamentösen Verfahren im Alltag kann Betroffenen allerdings kaum in einem einzelnen Arztgespräch vermittelt werden“, ergänzt sie.
Hinzu kommt: Multimodale Schmerzprogramme, wie sie an spezialisierten Kopfschmerzzentren großer Städte angeboten werden, sind nicht flächendeckend verfügbar. Daher stellt das digitale Portal von MIGRA-MD videobasierte Inhalte bereit – darunter praxisnahe Anleitungen zu Entspannungstechniken, physiotherapeutische Übungen sowie edukative Module zu Stressbewältigung und medikamentöser Behandlung.
Abgerundet wird das Angebot durch regelmäßig stattfindende virtuelle Patientenveranstaltungen, die von Expert:innen aus dem DMKG-Netzwerk geleitet werden.
Stärkung der digitalen Vernetzung, Verlaufskontrolle und Evaluation
Ein weiteres Modul von MIGRA-MD zielt auf die Stärkung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit ab. Dafür werden standardisierte, aussagekräftige Arztbriefe für Hausarztpraxen bereitgestellt – ergänzt um die Möglichkeit, bei komplexeren Verläufen eine ärztlich angeforderte Mitbetreuung durch DMKG-Expert:innen zu veranlassen.
Verlaufskontrollen nach 3 und 6 Monaten unterstützen eine dynamische Anpassung der Therapie. Die Evaluation der Versorgungsqualität erfolgt datengestützt über das seit 2020 etablierte DMKG-Kopfschmerzregister, in das Patient:innen mithilfe des Kopfschmerzkalenders der DMKG-App aktiv eingebunden sind.
Begleitende Studie soll neues Modell mit Regelversorgung vergleichen
Begleitend zur Einführung von MIGRA-MD wird die neue Versorgungsform im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie evaluiert – im Vergleich zur bisherigen Regelversorgung („treatment as usual“). Eingeschlossen werden erwachsene Patient:innen mit Migräne, die zwischen 4 und 25 Kopfschmerztage pro Monat aufweisen.
Voraussetzung für die Studienteilnahme ist, dass bisher keine multimodale Therapie erfolgte und keine Behandlung an einem der beteiligten Studienzentren stattgefunden hat. „Geplant sind 1.000 Patienten, und die Laufzeit der Studie geht vom 1. Juni 2025 bis 31. Mai 2029“, erläutert Dr. Ruscheweyh.
Als primäre und sekundäre Endpunkte werden unter anderem die Anzahl der Kopfschmerz- und Schmerzmitteltage pro Monat erfasst. „Darüber hinaus evaluieren wir die Behandlungszufriedenheit, Nutzungshäufigkeit sowie die Usability der App und der digitalen Portale“, so Ruscheweyh weiter.
Qualitätssicherung mit ambitionierten Zielen
„Unser Projekt dient der Qualitätssicherung der Kopfschmerzbehandlung im fachärztlichen Bereich“, fasst Dr. Ruscheweyh zusammen. MIGRA-MD verfolgt dabei mehrere zentrale Ziele: die Vermeidung von Unter-, Über- und Fehlversorgung, die Förderung einer leitliniengerechten, standardisierten Behandlung sowie die verstärkte Integration digitaler Instrumente in die Therapie.
Ebenso im Fokus stehen ein verbesserter Zugang zu nichtmedikamentösen Therapien und die gezielte Vernetzung zwischen verschiedenen Versorgungsebenen. „Geplant ist die Überführung in die Regelversorgung oder der Abschluss von Selektivverträgen“, so Ruscheweyh.
„Meilenstein für die DMKG“
Laut PD Dr. med. Lars Neeb, Präsident der DMKG, stellt die Förderung aus dem GKV-Innovationsfonds für die DMKG einen Meilenstein und eine großartige Anerkennung ihres kontinuierlichen Engagements für die Verbesserung der Kopfschmerzversorgung in Deutschland dar. Die medizinische Fachgesellschaft setzt sich bereits seit 1979 mithilfe von Forschungsförderung, Fortbildungen, eigenen Kongressen sowie zahlreichen Tools für Kopfschmerzpatienten und deren Therapeuten ein. Ein zentraler Baustein ist dabei die Initiative „Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen“.
Online-Fachpressekonferenz „Versorgungslücke Migräne – wie das Projekt „MIGRA-MD“ mit Struktur und Technik neue Standards setzt“ am 22. Mai 2025 als Auftakt zum 2. Kopfschmerzkongress der DMGK am 23. und 24. Mai 2025 in Köln. Veranstalter: Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMGK).
Literatur:
- (1)
GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group (2017) Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015, The Lancet Neurology, DOI: 10.1016/S1474-4422(17)30299-5