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Seltene Hochrisikovarianten ergänzen polygenes ADHS-Modell

ADHS ist eine Neuroentwicklungsstörung mit hoher Erblichkeit, deren genetische Grundlage aus Tausenden von Varianten besteht. Die meisten dieser Varianten erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose jedoch nur geringfügig. Eine internationale Studie unter der Leitung von Forschenden der Universität Aarhus (Dänemark) in Zusammenarbeit mit Partnern wie dem Broad Institute of MIT und Harvard (USA), der Radboud Universiteit (Niederlande) und dem Universitätsklinikum Würzburg (UKW) zeigte nun, dass auch sogenannte „high-effect genetic variants“, also seltene, stark wirkende genetische Varianten, eine wichtige Rolle spielen [1].

Störungen der Gehirnentwicklung und -funktion sind zentral für die Entstehung von ADHS

Die Forschenden fanden heraus, dass Personen mit seltenen Varianten in den drei Genen MAP1A, ANO8 und ANK2 ein deutlich erhöhtes ADHS-Risiko aufweisen, zum Teil um mehr als das 15-Fache. Diese genetischen Varianten sind zwar sehr selten, beeinflussen jedoch stark die Aktivität von Genen in den Nervenzellen. Bei Menschen, die diese Varianten tragen, kann die Entwicklung und Kommunikation zwischen den Nervenzellen daher gestört sein, was zu ADHS führen kann. „Die Ergebnisse zeigen erstmals klar benannte Gene, in denen seltene, stark wirkende Varianten eine hohe Anfälligkeit für ADHS verursachen und grundlegende biologische Mechanismen beeinflussen“, fasst Professor Anders Børglum vom Department of Biomedicine der Universität Aarhus, der Seniorautor der Studie, zusammen.

Die Analyse kombinierter genetischer und Genexpressionsdaten zeigt, dass die seltenen, an ADHS beteiligten Varianten insbesondere die Funktion dopaminerger und GABAerger Neurone beeinflussen. Diese Zelltypen sind für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motivation von großer Bedeutung. Die Auswirkungen lassen sich bereits im fetalen Leben nachweisen und reichen bis ins Erwachsenenalter.

Auswirkungen auf Intelligenz, Bildung und Beschäftigung

Die seltenen genetischen Varianten beeinflussen nicht nur, wer ADHS entwickelt, sondern auch, wie es den Betroffenen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt ergeht. Durch die Verknüpfung genetischer Daten mit dänischen Registerdaten fanden die Forschenden heraus, dass Personen mit ADHS und seltenen Varianten im Durchschnitt einen geringeren Bildungsstand und einen niedrigeren sozioökonomischen Status haben als Betroffene ohne diese Varianten. Bei Erwachsenen mit ADHS der Würzburger Stichprobe wurde eine durchschnittliche Abnahme des IQ-Werts um etwa 2,25 Punkte pro seltener Hochrisikovariante beobachtet.Die Ergebnisse erweitern das Verständnis der biologischen Grundlagen von ADHS und könnten die Basis für zukünftige Behandlungsmethoden bilden. Laut Studienteam ist das erst der Anfang. Ihre Berechnungen zeigen, dass es viele weitere seltene kausale Varianten gibt, die in noch größeren Studien identifiziert werden können.

Daten von fast 1.000 Patient:innen kamen aus Würzburg

In die aktuelle Studie flossen genetische Analysen von fast 9.000 Personen mit ADHS und von 54.000 Personen ohne ADHS ein. Diese wurden mit Analysen der Gehirnzellfunktion und Registerdaten zu Bildung und sozioökonomischem Status kombiniert. Das Universitätsklinikum Würzburg steuerte die diagnostische Evaluierung und das Biomaterial von fast 1.000 Patientinnen und Patienten mit ADHS des Erwachsenenalters bei.

Bei bis zu 60% der Betroffenen besteht ADHS im Erwachsenenalter fort

„ADHS über die gesamte Lebensspanne“ ist einer der gemeinsamen Forschungsschwerpunkte der beiden Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Die Störung ist die häufigste neuroentwicklungsbedingte Störung im Kindesalter. Bei bis zu 60 Prozent der Betroffenen besteht sie auch im Erwachsenenalter fort und ist mit erheblichem psychischem Leidensdruck verbunden – etwa durch wiederholte Misserfolge oder Frustrationserleben. Zudem entwickeln viele Erwachsene mit ADHS im Laufe ihres Lebens mindestens eine weitere psychische Erkrankung, zum Beispiel Depression, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Allerdings sprechen nur etwa die Hälfte der Betroffenen ausreichend auf die derzeit gängigen Behandlungsformen, wie beispielsweise Psychostimulanzien oder psychotherapeutische Verfahren, an. „Mit unserer Forschung möchten wir daher ein besseres Verständnis der neurobiologischen und psychologischen Ursachen von ADHS und seinen häufigen Begleiterkrankungen gewinnen, um langfristig die dringend notwendige Entwicklung zusätzlicher Therapieansätze zu unterstützen“, so Dr. Georg Ziegler, leitender Oberarzt und Leiter der Forschungsgruppe zu ADHS im Erwachsenenalter.

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Quelle:

Universitätsklinikum Würzburg

Literatur:

(1)

Demontis D et al. Nature (2025). DOI: https://doi.org/10.1038/s41586-025-09702-8