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Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), auch als Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom oder akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie bezeichnet, ist eine seltene, akut bis subakut verlaufende neurologische Erkrankung. Diese häufig postinfektiös auftretende, immun-vermittelte Polyneuritis entsteht durch eine Autoimmunreaktion, bei der das körpereigene Immunsystem fälschlicherweise Strukturen des peripheren Nervensystems angreift. Pathophysiologisch kommt es zu einer multifokalen Demyelinisierung und/oder axonalen Schädigung im Bereich der Rückenmarkswurzeln und peripheren Nerven. Das Immunsystem greift dabei entweder das signalübertragende Axon oder die Myelinscheide an, welche die Nerven umhüllt und eine rasche Signalübertragung gewährleistet. Das autonome Nervensystem bleibt typischerweise unbeeinträchtigt. Das klinische Spektrum reicht von milden Verläufen mit vorübergehender Schwäche bis hin zu schweren Formen mit nahezu vollständiger Paralyse und möglicher Atemlähmung. Schwere und Tempo der Erkrankung sowie Ausmaß der Rückbildung sind extrem variabel. Die Prognose ist grundsätzlich günstig: Die meisten Patient:innen erholen sich auch von schweren Verlaufsformen, wobei residuelle Schwächen bestehen können.

Wie häufig ist das Guillain-Barré-Syndrom und wer ist betroffen?

Eine umfassende Metaanalyse von 16 internationalen epidemiologischen Studien dokumentiert einen linearen Anstieg der GBS-Häufigkeit mit dem Lebensalter, wobei der Erkrankungsgipfel zwischen dem 70. und 80. Lebensjahr erreicht wird. Aktuelle globale Daten zeigen eine weltweite Prävalenz von 1,9 Fällen pro 100.000 Einwohner:innen, was einem Anstieg von 6,4% seit 1990 entspricht. Im Kindes- und Jugendalter liegt die Inzidenz deutlich niedriger: 0,62/100.000 Personenjahre bei 0-9-Jährigen und 0,75/100.000 Personenjahre bei 10-19-Jährigen. Geografisch zeigen sich erhebliche Unterschiede: Die höchsten Prävalenzraten finden sich in Hocheinkommensländern des asiatisch-pazifischen Raums (6,4/100.000) und Nordamerikas (4,2/100.000), während Ostasien (0,8/100.000) und Ozeanien die niedrigsten Raten aufweisen.

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Was sind die Ursachen und Risikofaktoren für die Entstehung des Guillain-Barré-Syndroms?

Die Ätiologie und Pathogenese des Guillain-Barré-Syndroms sind noch nicht vollständig geklärt, jedoch spielen Autoantikörper gegen verschiedene Ganglioside als Komponenten neuraler Strukturen eine zentrale Rolle. Das GBS entwickelt sich typischerweise wenige Tage bis Wochen nach einer respiratorischen oder gastrointestinalen bakteriellen oder viralen Infektion, die eine aberrante Autoimmunreaktion auslöst. Als häufigster Risikofaktor gilt die Infektion mit Campylobacter jejuni, einem Bakterium, das Gastroenteritis mit Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe verursacht. Als weitere gesicherte auslösende Erreger gelten in allen Altersstufen Cytomegalieviren, Epstein-Barr-Viren und Mycoplasma pneumoniae. Zusätzlich wurde ein erhöhtes GBS-Risiko nach Infektionen mit COVID-19, Zika-Virus sowie anderen viralen Erregern beobachtet. Impfungen können in extrem seltenen Fällen das GBS-Risiko erhöhen, wobei die Wahrscheinlichkeit außerordentlich gering ist. Studien zeigen, dass Patient:innen deutlich häufiger durch die Infektionen selbst als durch entsprechende Schutzimpfungen ein GBS entwickeln. Die pathophysiologische Grundlage liegt in der fehlgeleiteten Immunreaktion, bei der das körpereigene Abwehrsystem aufgrund molekularer Mimikry zwischen Erregeroberflächenstrukturen und peripheren Nervenelementen diese angreift.

Wie lässt sich das Guillain-Barré-Syndrom klassifizieren?

Das Guillain-Barré-Syndrom umfasst verschiedene Varianten, die pathogenetisch ähnlich sind, sich jedoch unter prognostischen und therapeutischen Gesichtspunkten unterscheiden:

  • Demyelinisierender Typ (AIDP - Akute Inflammatorische Demyelinisierende Polyneuropathie): Diese in Europa und bei Kindern vorherrschende Form zeigt motorische und sensible Symptome mit elektrophysiologischen Kriterien der Demyelinisierung und möglicherweise sekundären axonalen Läsionen.

  • Primär axonaler motorischer Typ (AMAN - Akute Motorische Axonale Neuropathie): Charakterisiert durch rein motorische Ausfälle ohne Sensibilitätsstörungen, elektrophysiologische Zeichen primär axonaler Schädigung und häufige Assoziation mit Campylobacter jejuni-Infektionen. Anti-GM1- und -GD1a-IgG-Antikörper sind oft nachweisbar.

  • Axonaler motorisch-sensorischer Typ (AMSAN - Akute Motorische und Sensorische Axonale Neuropathie): Entspricht dem AMAN-Typ mit zusätzlichen sensiblen Symptomen und elektrophysiologischem Befall sensibler Nerven.

  • Miller-Fisher-Syndrom (MFS): Seltene Variante mit primärem Hirnnervenbefall, Ataxie und Areflexie. In über 90% der Fälle sind anti-GQ1b-Antikörper nachweisbar.

  • Pharyngo-cervico-brachiale Variante: Sehr seltene Form mit ausschließlich oder überwiegend bulbären Symptomen und häufig nachweisbaren IgG-Antikörpern gegen GT1a.

Welche Symptome hat das Guillain-Barré-Syndrom?

Das Guillain-Barré-Syndrom manifestiert sich durch ein charakteristisches Spektrum neurologischer Symptome, die sich typischerweise rasch entwickeln und über Stunden bis Tage progredient verschlechtern.

Motorische Symptome

Die Schwäche beginnt meist in den Füßen und steigt symmetrisch aufwärts zu Beinen, Armen, Gesicht und schließlich zur Atemmuskulatur auf. Patient:innen bemerken zunächst unerwartete Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Gehen. Seltener beginnen die Symptome im Gesicht und breiten sich nach unten aus. Die meisten Patient:innen erreichen das Maximum der Schwäche innerhalb der ersten zwei Wochen, 90% sind bis zur dritten Woche an ihrem schwächsten Punkt. Charakteristisch sind abgeschwächte oder erloschene Muskeleigenreflexe.

Sensible Symptome

Aufgrund der Nervenschädigung empfängt das Gehirn abnorme sensorische Signale, was zu unerklärlichen, spontanen Empfindungen (Parästhesien) führt. Diese äußern sich als Kribbeln, Ameisenlaufen unter der Haut oder Schmerzen. Bis zu 50% der Patient:innen leiden unter heftigen neuralgischen Schmerzen ohne objektivierbare Sensibilitätsausfälle, gelegentlich bereits als Erstsymptom.

Hirnnerven- und autonome Beteiligung

Bei einigen Patient:innen entwickelt sich eine Hirnnervenbeteiligung mit Schwierigkeiten bei Augenbewegungen, Schlucken, Sprechen oder Kauen. Teilweise treten Ateminsuffizienz und/oder vegetative Symptome wie abnorme Herzfrequenz, Blutdruckveränderungen oder Verdauungs- und Blasenprobleme auf.

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Wie wird das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert?

Die Diagnose des Guillain-Barré-Syndroms basiert auf einer kombinierten Bewertung anamnestischer, klinischer, liquordiagnostischer und elektrophysiologischer Befunde. Da GBS unterschiedlich beginnen kann und mehrere Erkrankungen ähnliche Symptome aufweisen, kann die Diagnosestellung in frühen Stadien herausfordernd sein.

Diagnosekriterien

  • Notwendige Kriterien: Fortschreitende Schwäche mehr als einer Extremität über maximal 4 Wochen, Verlust mindestens der distalen Muskeleigenreflexe, Ausschluss alternativer Ursachen mit angemessenen Mitteln.

  • Unterstützende Kriterien: Relative Symmetrie der Paresen, Hirnnervenbeteiligung, nur milde sensorische Symptome, Erholung nach 1-4-wöchiger Plateauphase, autonome Dysregulation, kein Fieber bei Beginn der Neuropathie.

Liquordiagnostik

Eine Lumbalpunktion mit Analyse von Liquor-Eiweiß und -Zellzahl soll zur GBS-Diagnose durchgeführt werden. Typisch ist eine „zyto-albuminäre Dissoziation“ mit erhöhter Liquoreiweißkonzentration bei normaler Zellzahl. Bei initial normalem Befund kann die Punktion nach sieben bis zehn Tagen wiederholt werden.

Elektrophysiologie

Die elektrophysiologische Diagnostik ist zur Diagnosesicherung und Variantenunterscheidung unverzichtbar. Sie misst die Nervenleitfähigkeit, die bei GBS aufgrund der Myelinschädigung verlangsamt ist. Bei initial normalen Befunden kann die Untersuchung nach einer bis zwei Wochen wiederholt werden.

Wie behandelt man das Guillain-Barré-Syndrom?

Derzeit existiert keine kausale Heilung für das Guillain-Barré-Syndrom. Jedoch können spezifische immunmodulierende Therapien den Schweregrad reduzieren und die Erholungszeit verkürzen. Die Behandlung umfasst akute immunmodulierende Maßnahmen sowie umfassende supportive Therapie.

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Immunmodulierende Akuttherapie

Eine Indikation für Intravenöse Immunglobuline oder Plasmapherese besteht bei mäßig schwerem bis schwerem Verlauf innerhalb einer maximalen Krankheitsdauer von vier Wochen. Beide Verfahren sind als gleichwertig anzusehen, die Entscheidung erfolgt nach Verfügbarkeit, Gesamtsituation der Patient:innen und zu erwartenden Nebenwirkungen. Glukokortikosteroide sind nicht wirksam und sollen nicht gegeben werden, da sie sogar für die Erholung hinderlich sein können.

Supportive Therapie

Patient:innen werden stationär, idealerweise intensivmedizinisch überwacht, da Atemversagen auftreten kann und mechanische Beatmung erforderlich werden könnte. Störungen des autonomen Nervensystems erfordern kontinuierliches Monitoring von Herzfrequenz, Blutdruck und anderen Vitalfunktionen. Bei Schluckstörungen sind spezielle Maßnahmen zur Aspirationsprophylaxe notwendig.

Wie ist die Prognose bei Guillain-Barré-Syndrom?

Eine Rehabilitationsbehandlung ist nach GBS erforderlich. Die meisten Patient:innen erholen sich vollständig, wobei die Genesung von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren dauern kann. Manche behalten langfristige Schwäche, Taubheitsgefühle, Fatigue oder Schmerzen zurück. Psychologische Unterstützung kann bei der Bewältigung der emotionalen Belastung hilfreich sein.

Patient:innen-FAQ

Häufig gestellte Fragen zum Thema Guillain-Barré-Syndrom

Rund um das Thema Guillain-Barré-Syndrom stellen sich für Betroffene und Angehörige oft viele Fragen: zur Diagnose, zu Behandlungsmöglichkeiten, zu Nebenwirkungen oder zum Alltag mit der Erkrankung. In dieser Patient:innen-FAQ finden Sie Antworten auf die häufigsten Fragen.