Trotz fehlender Therapie: Mehrheit der Betroffenen von Long-COVID wird gesund
Lukas HoffmannEtwa 5 bis 10% der Menschen mit vorangegangener SARS-CoV-2-Infektion entwickeln Long-COVID [1]. Im Jahr 2023 litten darüber hinaus über eine halbe Million Menschen an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) [2]. Die meisten Patient:innen dieser beiden Erkrankungen werden ambulant behandelt. Biomarker, Therapieansätze und passende Medikamente für Long-COVID und ME/CFS gibt es noch nicht. Aber Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen tragen immer mehr Wissen zusammen.
Ist ME/CFS eine Folge von Long-COVID?
Bei beiden Erkrankungen handle es sich um „Umbrella Terms“, also Sammelbegriffe für verschiedene Krankheitsmechanismen und -verläufe, sagte Dr. Thomas Lenzen im Interview. Lenzen ist selbst Arzt und war in der Corona-Pandemie von Long-COVID und ME/CFS betroffen. Heute leitet er die klinische Forschung des Bonner Start-ups Fimo Health.
Prof. Dr. Martin Walter, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena, betonte im Interview: „ME/CFS sehen wir heute als die schwerste Folge von Long-COVID an.“ Aber nicht nur SARS-CoV-2 kann ME/CFS auslösen. Verschiedene andere Pathogene sind als Auslöser bekannt, wie beispielsweise das Epstein-Barr-Virus oder Influenza.
Was sind die Symptome von Long-COVID und ME/CFS?
Laut der S1-Leitlinie „Long/Post-COVID“ sind die Symptome von Long-COVID vielgestaltig und können mehrere Organsysteme betreffen. Sie reichen von Fatigue und Belastungsintoleranz über kognitive Störungen („Brain Fog“), Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Atembeschwerden, Brustschmerzen, Herzrasen, Schlafstörungen, Geruchs- und Geschmackstörungen, depressive Verstimmungen und Angst bis hin zu Magen-Darm-Beschwerden und neurologischen Beschwerden. Treten einige dieser Symptome mindestens 4 Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion auf, kann das Post-COVID-Syndrom (ICD-10: U09.9) diagnostiziert werden.
Um ME/CFS (ICD-10: G93.3) zu diagnostizieren, sollten laut der S3-Leitlinie Müdigkeit [4] der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) folgende 3 Symptome dauerhaft vorliegen:
eine substanzielle Einschränkung der Fähigkeit zu beruflichen, schulischen, sozialen und persönlichen Aktivitäten, die länger als 6 Monate besteht und von Müdigkeit begleitet wird
Abgeschlagenheit nach körperlicher Belastung (engl.: post-exertional malaise – PEM) und
nicht erholsamer Schlaf
Außerdem muss noch mindestens eines der beiden folgenden Symptome vorliegen:
kognitive Einschränkungen und/oder
orthostatische Intoleranz
Ätiologie von Long-COVID und ME/CFS
Vom 12. bis 13. Mai 2025 tauschten sich Forschende auf der „International ME/CFS Conference 2025“ in Berlin über die Ätiologie von Long-COVID und ME/CFS aus [5]. Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinische Immunologie an der Charité-Universitätsmedizin Berlin, betonte in ihrem Eröffnungsvortrag, dass es sich bei beiden Erkrankungen um multisystemische Erkrankungen mit Beteiligung von Immun-, autonomen und metabolischen Systemen handele. Zentrale pathophysiologische Merkmale seien eine chronische Inflammation, eine Autoimmunität und eine Autoantikörperbildung. Zudem bestehen häufig autonome Dysfunktionen und mitochondriale Störungen. Bedeutsam sei auch das Vorkommen von Autoantikörpern gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCRs). Diese beiden letzten Punkte wurden in anderen Vorträgen weiter vertieft.
Mitochondriale Dysfunktion und Autoantikörper gegen GPCRs
So zeigte etwa Dr. h.c. Jürgen Steinacker, Universitätsprofessor für Sport- und Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm, dass Patient:innen mit ME/CFS und Long-COVID nachweisbare strukturelle und funktionelle Schäden der Mitochondrien aufweisen, die nicht nur Muskeln, sondern auch das Herz und den Zellstoffwechsel betreffen. Folglich sei ein Leistungsabfall und Fatigue bei Betroffenen nicht psychogen, sondern biologisch erklärbar.
Prof. Takashi Yamamura (MD, PhD), Direktor des National Institute of Neuroscience am National Center of Neurology and Psychiatry (NCNP) in Tokio, wies darauf hin, dass bei Betroffenen von ME/CFS aus Japan und Deutschland Autoantikörper gegen GPCRs wie Beta-1, Beta-2, M3 und M4 gefunden wurden. Auch bei Long-COVID-Patient:innen finde man sehr ähnliche Antikörpermuster. Er stellte einen Zusammenhang zwischen der Höhe bestimmter Autoantikörper (z.B. Beta-1) und Auffälligkeiten im präfrontalen Kortex dar, also jenem Hirnareal, das für Denk- und Konzentrationsleistungen zuständig ist.
Diagnostik von Long-COVID und ME/CFS in der Praxis
„Wichtig ist, alle Symptome zu erfragen und zu untersuchen, weil es bei Post-COVID und ME/CFS eine Kombination aus einer großen Anzahl an Symptomen geben kann“, sagte Prof. Walter. Für die Anamnese von Long-COVID und ME/CFS gibt es verschiedene etablierte Fragebögen, die in der Praxis und Forschung eingesetzt werden, wie den DePaul Symptom Questionnaire (DSQ) oder die Canadian Consensus Criteria Symptom Checklist. Häufig angezeigte Symptome sind laut Walter die Belastungsintoleranz (PEM), eine orthostatische Intoleranz, kognitive Beeinträchtigungen, Schlafstörungen sowie affektive Symptome. Orthostatische Intoleranzen könne man durch einfache Tests, wie zum Beispiel den Handkrafttest oder den Stand-Up-Test nachweisen. Der Handkrafttest zeigt die maximale isometrische Greifkraft der Hand. Schnelles Aufstehen und Hinsetzen (Stand-Up-Test) kann Hinweise auf eine Belastungsintoleranz sowie auf Kreislaufprobleme oder eine posturale Intoleranz liefern, die bei Long-COVID bzw. ME/CFS häufig sind. Besteht Unsicherheit bei der Diagnosestellung, können Patient:innen an eine Spezialambulanz [6] verwiesen werden.
EBM-Ziffern für Long-COVID
Seit Januar 2025 gibt es neue EBM-Ziffern für die Versorgung von Patient:innen mit Long-COVID bzw. ME/CFS, die extrabudgetär vergütet werden [7]. Einmal pro Krankheitsfall kann ein Basis-Assessment (GOP 37800) in Höhe von 20,33 Euro (164 Punkte) abgerechnet werden, mit der eine systematische Erfassung von Symptomen, Funktionsstörungen und Verlaufsmerkmalen bei Verdacht auf Long-COVID bezahlt wird. Bei Patient:innen mit ausgeprägter Symptomatik wie starker Funktionseinschränkung, Post-Exertional Malaise (PEM), POTS oder der gesicherten Diagnose G93.3 V (ME/CFS) kann maximal 2-mal ein zusätzlicher Zuschlag in Höhe von 15,86 Euro (128 Punkte) abgerechnet werden (GOP 37801). Um die Koordination fachübergreifender Mitbehandlung bei komplexen Krankheitsverläufen zu honorieren, kann einmal pro Krankheitsfall die Ziffer GOP 37802 in Höhe von 17,47 Euro (141 Punkte) in Rechnung gestellt werden, sofern die Patient:innen durch mindestens einen Vertragsarzt einer anderen Fachrichtung behandelt wird.
Welche Medikamente gibt es gegen Long-COVID?
Derzeit gibt es keine für die Behandlung von Long-COVID oder ME/CFS zugelassene Arzneimittel. Es können aber Medikamente eingesetzt werden, die für andere Anwendungsgebiete zugelassen sind (Off-Label-Use). Auf der Berliner Fachtagung stellte Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Hämatologie und Onkologie an der Charité Berlin und Vorsitzender der Expertengruppe „Long COVID Off-Label-Use“ 4 Arzneimittel vor, die Betroffenen von Long-COVID beim Vorhandensein entsprechender Symptome helfen können. Dabei monierte Wörmann in seinem Vortrag die dünne Datenlage. Von 1.600 gesichteten Studien hätten nur 41 die Mindestkriterien für klinische Relevanz erfüllt und seien deshalb in die Auswertung eingeflossen.
Empfohlene Medikamente bei Long-COVID – mit Evidenzlage
Medikament | Zielsymptome | Evidenzlage & Empfehlung |
Ivabradin | POTS-Symptomatik, Fatigue, Tachykardie | Verbesserung von Fatigue und Herzfrequenz bei Long-Covid mit POTS, Empfehlung durch Expertengruppe |
Vortioxetin | Kognitive Störungen, Depression | Signifikante Verbesserung von Kognition und Depression, Empfehlung bei Post-COVID mit kognitiven Symptomen |
Agomelatin | Schmerzen, Schlafstörungen | Signifikante Schmerzlinderung in RCTs und Beobachtungsstudien. Gut verträglich. Empfehlung bei Schmerzbild |
Low Dose Naltrexon (LDN) | Chronische Schmerzen, Fatigue | Positive Ergebnisse bei Fatigue und Schmerz. Große Studie läuft (Ergebnisse Sommer 2025). Empfehlung geplant |
Weitere Informationen zu den oben genannten Medikamenten sowie zu weiteren Arzneimitteln sind im Therapie-Kompass gebündelt, der auf der Website des BfArM heruntergeladen werden kann [8]. Laut Wörmann soll die finale Empfehlungsliste bis Juni 2025 fertiggestellt und dann dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) übermittelt werden.
Pacing als wichtiges Reha-Ziel bei Long-COVID
Für Thomas Lenzen, den Forschungsleiter des Bonner Start-ups Fimo Health, war das Erlernen eines adäquaten Energiemanagements (Pacing) entscheidend, um „Crashes“ (PEM – Post-Exertional Malaise) zu vermeiden, die typischerweise zeitverzögert am Folgetag nach teils nur geringen körperlichen, kognitiven oder sensorischen Belastungen auftreten. Auch während des Aufenthalts in einer Reha-Klinik wäre Pacing ein wichtiges Reha-Ziel. „Pacing ist für viele eine große Herausforderung, weil es kontraintuitiv ist“, so Lenzen.
Prof. Walter wies darauf hin, dass Patient:innen in vielen Reha-Kliniken bemängelten, dass PEM nicht ausreichend berücksichtigt wird. „Es gibt Hinweise darauf, dass eine nicht berücksichtige PEM-Symptomatik in der Reha-Klinik zu einer Verschlechterung der Gesundheit der Betroffenen führt“, sagte er. Deshalb sollte die PEM-Diagnose bereits bei der Einweisung dokumentiert sein. Auch könnten niedergelassene Fachärzt:innen zusammen mit den Betroffenen prüfen, ob eine Reha-Einrichtung über ein angepasstes Konzept verfügt.
Heilungschancen bei Long-COVID und ME/CFS
Auch wenn es keine spezifische Therapie für Long-COVID bzw. ME/CFS gibt, werden die meisten Long-COVID-Patient:innen wieder gesund. Laut einer Publikation der Oxford-Professorin Prof. Dr. Trisha Greenhalgh im „Lancet” sind nach einem Jahr noch 71% der Patient:innen mit Long-COVID symptomatisch [9|. Nach 2 Jahren sind es 51% und nach 3 Jahren noch rund ein Drittel. Ein Teil dieser langfristig Erkrankten erfüllt die Kriterien für ME/CFS. Laut Prof. Walter zeigen diese Daten, dass sich die Gesundheit von vielen Patient:innen auch ohne gezielte Therapie im Verlauf bessert. „Andererseits bleibt ein relevanter Anteil der Betroffenen auch langfristig beeinträchtigt“, so Walter.
Literatur:
- (1)
Robert Koch Institut: Long COVID, abrufbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/COVID-19/Long-COVID/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langzeitfolgen.html, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (2)
Deutsche Gesellschaft für ME/CSF: Was ist ME/CSF, abrufbar unter: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (3)
S1-Leitlinie Long/Post-COVID, abrufbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027l_S1_Long-Post-Covid_2024-06_1.pdf, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (4)
DEGAM Leitlinie: S3 053-002 Müdigkeit, abrufbar unter: https://www.degam.de/leitlinie-s3-053-002, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (5)
International ME/CFS Conference 2025, abrufbar unter: https://events.mecfs-research.org/de/events/conference_2025/agenda, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (6)
BMG Initiative Long COVID, Bürgertelefon und regionale Kliniksuche, abrufbar unter: https://www.bmg-longcovid.de/service/buergertelefon-und-regionale-kliniksuche, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (7)
Kassenärztliche Bundesvereinigung: Neue EBM-Leistungen für Patienten mit Verdacht auf Long COVID, abrufbar unter: https://www.kbv.de/html/1150_73128.php, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (8)
BfArM: Expertengruppe Long COVID Off-Label-Use, abrufbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Zulassung/Zulassungsrelevante-Themen/Expertengruppe-Long-COVID-Off-Label-Use/_node.html, letzter Zugriff: 22.05.2025.
- (9)
Greenhalg T. et al. (2024) Long COVID: a clinical update, Lancet Volume 404, Issue 10453p707-724, DOI: 10.1016/S0140-6736(24)01136-X.