Journal MED
Schwerpunkte
Inhaltsverzeichnis

Die Musiktherapie ist bereits seit der Antike bekannt

Dass Musik außer Seele und Ohren zu erfreuen auch heilkräftige physiologische und psychische Effekte entfaltet, wusste man bereits in der Antike. So manche bekannte Ärzte dieser Epoche empfahlen sie bei Indikationen, die den heutigen erstaunlich naheliegen.

Doch bis Musik als therapeutisches Mittel institutionalisiert wurde, sollte es noch dauern – weit über zwei Jahrtausende. Erst in den 1950er Jahren fand die Musiktherapie hierzulande Eingang in die stationäre Therapie. Damals wurde sie zunächst vor allem in psychiatrischen Kliniken angewendet.

Inzwischen hat sie sich laut Prof. Dr. Lutz Neugebauer dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG) im stationären Bereich als bewährtes Behandlungskonzept etabliert. Dessen Einsatzspektrum ist beachtlich breit. Es umfasst neben psychischen und neurologischen Krankheiten unter anderem auch Krebserkrankungen und Schmerzen. Man kann völlig zu Recht sagen, dass die Liste tatsächlich von A wie Angststörungen bis Z wie Zahnschmerzen reicht...

Beeindruckende Evidenz zur Effektivität

Das hört sich hervorragend an und ist zudem unterdessen auch hinreichend wissenschaftlich belegt. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen der Nutzen von Musiktherapie in Frage gestellt wurde. Die intensiven Forschungsaktivitäten der vergangenen Jahre und die zahllosen Studien in deren Folge haben die Zweifel ausgeräumt. Das starke wissenschaftliche Interesse resultierte der Datenbank Pub Med zufolge in fast 9.000 Fachartikeln, darunter etwa 1.500 randomisierte, kontrollierte Studien und 360 Metaanalysen. „Es liegt mithin eine sehr gute Evidenz für die Wirksamkeit vor“, so Prof. Neugebauer.

Angesichts ihrer verstärkten Erforschung ist die Musiktherapie mittlerweile in 37 AWMF-Leitlinien vertreten, darunter in 29 S3-Leitlinien.

Musiktherapie: „So wirksam wie Opioide oder Verhaltenstherapie...“

Dass und wie beindruckend die Fülle an Belegen ist, bestätigt auch Prof. Dr. phil. habil. Sabine Koch, Empirische Forschung in den Künstlerischen Therapien an der Alanus Hochschule Bonn. Sie erforscht mit ihrem Institut seit vielen Jahren die Effekte von Musik- und Tanztherapie bei verschiedenen Erkrankungen. „Im Rahmen einer Therapie eingesetzte Musik fördert die seelische, körperliche und geistige Gesundheit. Dabei kann sie genauso wirkungsvoll wie ein Opioid oder eine Verhaltenstherapie sein“, so Prof. Koch.

Schmerzen

Besonders gut erforscht und erprobt ist laut Prof. Koch, die Wirksamkeit bei chronischen und akuten Schmerzen [1]. „Insgesamt ist ihre Wirkung hier ähnlich gut wie die Behandlung mit Opioiden, jedoch ohne unerwünschte Nebenwirkungen“.

Krebserkrankungen

Auch aus der Onkologie gibt es sehr gute Ergebnisse: „Der positive Effekt ist stark, er ist signifikant“, betont Prof. Koch. So werden bei den Betroffenen Angstzustände, Depressionen, Schmerzen, Müdigkeit, Herzfrequenz und Blutdruck signifikant gesenkt [2]. „Musiktherapie ist bei Krebserkrankungen genauso effektiv wie Verhaltenstherapie“.

Autismus

Bei autistischen Menschen, ganz besonders bei Kindern, verbessert Musiktherapie Verhaltenssymptome, Sprache und soziale Kompetenz [3]. Laut Prof. Koch scheint „Rhythmus Orientierung und Sicherheit zu geben, Interaktionen anzubahnen sowie Stress und dysfunktionale Erregung zu reduzieren“.

Frühgeborene

Auch bei Frühgeborenen zeigt die Musiktherapie große Erfolge. Sie profitieren zum einen durch eine Steigerung der kardiovaskulären Stabilität: Musiktherapie wirkt positiv auf Blutdruck, Atem- und Herzfrequenz und steigert die Sauerstoffsättigung. Zum anderen wird die Vernetzung jener Hirnregionen unterstützt, die für Hören, Kognition, emotional-soziale Verarbeitung sowie Feinmotorik verantwortlich sind [4]. Weiterhin wird Stress sowohl bei den Babys wie den Eltern reduziert und die Bindung zueinander gestärkt – was ganz wesentlich für die weitere Entwicklung nach einem schwierigen Start ins Leben ist.

Wenn Worte nicht mehr ausreichen und Sprache an ihre Grenzen stößt...

… ist Musiktherapie generell das Mittel der Wahl. „Denn sie findet Zugänge jenseits der Muttersprache und überwindet Sprachbarrieren“, weiß Prof. Neugebauer aus seinen langjährigen Erfahrungen. Besonders effektiv erweist sich dies bei all jenen, die traumatische Erfahrungen durch familiäre Gewalt, Flucht, Krieg oder Folter gemacht haben sowie bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen, wenn die Sprache verloren gegangen ist. Kinder, eine besonders vulnerable Gruppe, profitieren ebenfalls erfolgreich von musiktherapeutischen Anwendungen, so der DMtG-Vorsitzende weiter: „Bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen unterstützen diese beispielsweise die Sprachentwicklung“.

Demenzen

Dass Musik sehr positiv bei Menschen mit Alzheimer bzw. Demenz wirkt, ist bereits seit längerem bekannt. Denn Musiktherapie lindert ihre Angst, Unruhe sowie Apathie und stärkt soziales Interesse und kognitive Leistung [5]. Als besonders wirksam erweist sich Chorgesang. „Wir erfahren oft, dass Betroffene dank dessen weniger depressive Symptome haben und wieder besser mit ihrem Umfeld in Kontakt treten“.

Neurologische Erkrankungen

Auch bei Multipler Sklerose, Morbus Parkinson oder zur Rehabilitation nach Schlaganfällen kommt Musiktherapie mit guten Erfolg zum Einsatz. Gerade bei Sprachstörungen nach einem Schlaganfall [6]: „Sie bewirkt signifikante Verbesserungen hinsichtlich der funktionalen Kommunikation, Wiederholung und Benennung“. Parkinson-Kranken hilft Tanzen, vor allem Tangotanz [7]. Das verbessert nicht nur motorische Fähigkeiten wie das Gehen und Balance halten, sondern auch die Lebensqualität. Zudem stimuliert dieser Tanz positive emotionale und soziale Wirkungen. „Laut den Ergebnissen vieler randomisiert-kontrollierter Studien kann Tango eine vielversprechende nicht-medikamentöse Therapieoption zur Stabilisierung bei Parkinson sein“, freut sich die Expertin aus Bonn.

Palliativmedizin

Neigt sich das Leben dem Ende, fördert Musiktherapie die Entspannung und steigert das Wohlbefinden [8]. Nach den Worten von Prof. Koch hat sie „bei der Reduktion von Depression und Angstsymptomatik oft denselben guten Wirkungsgrad wie eine kognitive Verhaltenstherapie“ [9].

Brandneue WHO-Studie belegt: Musik und Kunst machen gesund

Die Resultate der zahllosen bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Auswirkungen auf physische, psychologische und kognitive Funktionen sowie die Lebensqualität sprechen eine klare Sprache. „Auch wenn sich die Tatsache der hohen Effektivität kunstbasierter Interventionen im deutschen Gesundheitswesen noch nicht hinreichend herumgesprochen hat“, wie Prof. Koch bedauert: „Deutschland hinkt hinterher und muss aufpassen, dass es den Zug nicht verpasst“.

Umso besser, dass ein von der WHO initiiertes brandneu vorliegendes Umbrella Review nun die weltweiten Daten zur Evidenz zusammengefasst hat. „Eine beeindruckende Fülle von Wirkungsbelegen“. Methodisch einbezogen wurden ausschließlich systematische Reviews mit Metaanalysen – mithin höchstes Evidenz-Level. Der Fokus lag auf den sogenannten Non-Communicable Diseases (NCDs), die sechs verschiedene große Behandlungsgruppen einschließen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen, psychische Erkrankungen und neurologische Störungen. Die Ergebnisse des Umbrella Reviews zeigen, dass Menschen mit NCDs hinsichtlich ihrer körperlichen, psychischen und kognitiven Funktionen sowie ihrer Lebensqualität von kunstbasierten Interventionen profitieren können [10]. Laut Prof. Koch können diese deshalb eine wertvolle Ergänzung zu traditionellen Behandlungen wie Psychotherapie oder medikamentöse Therapien für NCDs darstellen.

Prominente Unterstützung durch Startrompeter Till Brönner

Der international bekannte Jazztrompeter engagiert sich seit fast drei Jahrzehnten für die Musiktherapie. Denn Musik ist für ihn die stärkste und zugleich sanfteste Sprache. „Deren Kraft dürfen wir nie vergessen. Sie hat mich selbst in den dunkelsten Momenten gerettet“. Brönner setzt sich für die Anerkennung und Regelfinanzierung dieser Therapie ein, „damit auch die Bedürftigsten und Schwächsten“ davon profitieren können.

Musiktherapie muss zur ambulanten Regelleistung werden

Trotz der guten wissenschaftlichen Evidenz und der Fülle an positiven Erfahrungen aus der Praxis werden musiktherapeutische Anwendungen im ambulanten Bereich nach wie vor nicht erstattet. Die Verankerung in der ambulanten Versorgung ist jedoch auch nach den Worten von Prof. Neugebauer dringend notwendig: „Auch und gerade im Hinblick auf vulnerable Gruppen, die auf diese Therapieform besonders angewiesen sind“. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) konstatierte in einem Gutachten bereits 2019 eine soziale Benachteiligung, da im ambulanten Bereich nur einkommensstärkere Schichten die Leistung Musiktherapie privat tragen können. „Ein Gesundheitswesen, in dem das Leitprinzip ‚ambulant vor stationär‘ gilt, muss endlich politisch wie finanziell die Zugänge zur Musiktherapie auch ambulant für alle sicherstellen und Krankenkassen die Kostenübernahme ermöglichen“, fordert Prof. Neugebauer.

Multimodale ADHS-Therapie: Wege zur personalisierten Therapie bei Komorbiditäten

Lesen Sie mehr zu diesem Thema:

Multimodale ADHS-Therapie: Wege zur personalisierten Therapie bei Komorbiditäten

Jetzt lesen
Quelle:

Online-Pressekonferenz im Vorfeld des 13. Europäischen Musiktherapie-Kongresses vom 23. bis 27.07.2025 am 15.07.2025.

Literatur:

(1)

Parsons C. et al. Pain Physician 2017; 20(7): 597 – 610.

(2)

Bradt, J. et al. Psycho-Oncology 2024; 33(10), e70005.

(3)

Gao X. et al. Front Psychiatry 2025; 14; 15:1511920, DOI: 10.3389/fpsyt.2024.1511920.

(4)

Haslbeck F. B. et al. Neuroimage Clin 2020; 25: 102171, DOI: 10.1016/j.nicl.2020.102171.

(5)

Bruinsma M. S. et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2025, Issue 3. Art. No.: CD003477, DOI: 10.1002/14651858.

(6)

Liu Q. et al. Neurol Sci 2022; 43(2): 863 – 872.

(7)

Duncan R. P. Earhart G. M. Neurorehabil Neural Repair 2012; 26(2): 132 – 143.

(8)

Warth, M. et al. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 788 – 794.

(9)

Wang M. et al. Complement Ther Clin Pract 2023; 53: 101809, DOI: 10.1016/j.ctcp.2023.101809.

(10)

de Witte, M. et al. PREPRINT (V1) at Research Square, DOI: 10.21203/rs.3.rs-5961850/v1.