Amyothrophe Lateralsklerose (ALS): Schleichender Beginn, unaufhaltsamer Verlauf
Dr. rer. nat. Marion Adam und Nina HaußerEtwa ein bis 2 von 100.000 Menschen erkranken jährlich unheilbar an amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit bricht meist zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr aus. Jüngere Erwachsene sind nur selten betroffen. Männer erkranken etwas öfter als Frauen. Die chronische, degenerative Erkrankung des Nervensystems schädigt vor allem die motorischen Nervenzellen, was zu einem fortschreitenden Muskelschwund in Armen und Beinen, Sprech- und Schluckstörungen sowie Atemproblemen führen kann. Passende Therapien lindern die Symptome, steigern die Lebensqualität und verzögern das Voranschreiten der Erkrankung.
Was ist Amyotrophe Lateralsklerose?
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) stellt eine progressive neurodegenerative Erkrankung dar, die durch den selektiven Untergang motorischer Nervenzellen charakterisiert ist. Während Jean-Martin Charcot diese Erkrankung bereits 1869 als reine Motoneuron-Pathologie beschrieb, hat sich das Verständnis der ALS in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Heute wird sie als komplexe Multisystemerkrankung verstanden, die sowohl das erste Motoneuron im motorischen Kortex als auch das zweite Motoneuron in Hirnstamm und Rückenmark betrifft. Das klinische Erscheinungsbild beginnt typischerweise mit fokalen amyotrophen Paresen, die sich im Krankheitsverlauf generalisieren und bei der klassischen Verlaufsform innerhalb von drei bis fünf Jahren zur respiratorischen Insuffizienz führen.
Wie häufig ist Amyotrophe Lateralsklerose und wer ist betroffen?
In Europa beträgt die jährliche Inzidenz etwa 2 bis 3 Fälle pro 100.000 Einwohner:innen, wobei sich geografische Variationen beobachten lassen. Das Erkrankungsrisiko steigt mit dem Lebensalter deutlich an und erreicht seinen Höhepunkt zwischen dem 45. und 75. Lebensjahr. Der Symptombeginn unterscheidet sich charakteristisch zwischen den Krankheitsformen: Sporadische ALS-Fälle manifestieren sich typischerweise im sechsten Lebensjahrzehnt, während familiäre Formen bereits eine Dekade früher auftreten können. Männer zeigen ein leicht erhöhtes Erkrankungsrisiko, insbesondere bei der sporadischen Form mit Extremitätenbeginn, wobei das Geschlechterverhältnis etwa 1,3:1 beträgt. Obwohl die ALS mit einem Lebenszeitrisiko von etwa 1:400 relativ häufig auftritt, wird sie aufgrund der kurzen Überlebenszeit von durchschnittlich zwei bis vier Jahren zu den seltenen Erkrankungen gezählt. Diese ungünstige Prognose führt zu einer niedrigen Prävalenz von geschätzten 6.000 bis 8.000 Patient:innen in Deutschland, was die Dringlichkeit therapeutischer Fortschritte unterstreicht.
Wie wird die Amyotrophe Lateralsklerose klassifiziert?
Die klinische Heterogenität der ALS manifestiert sich in verschiedenen Phänotypen, die sich hinsichtlich Verlaufsdynamik und Prognose erheblich unterscheiden. Diese Vielfalt stellte bislang eine bedeutende Herausforderung für die klinische Praxis und Forschung dar, da ein einheitliches Klassifikationssystem fehlte. Die mangelnde Standardisierung wird als möglicher Faktor für das wiederholte Scheitern therapeutischer Studien in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert.
Um diese Lücke zu schließen, haben deutsche Forschungsgruppen kürzlich ein Klassifikationssystem entwickelt, das bereits an mehreren Zentren implementiert wird. Dieses „OPM“-System basiert auf drei zentralen Dimensionen: dem initialen Manifestationsort (Onset), dem Ausbreitungsverhalten motorischer Defizite (Propagation) und der spezifischen Motoneuron-Beteiligung (Motor neuron involvement). Die erste Dimension erfasst sieben anatomische Regionen des Krankheitsbeginns, von bulbären Manifestationen über proximale und distale Extremitätenvarianten bis hin zu axialen und respiratorischen Erstmanifestationen. Das Ausbreitungsmuster wird anhand der zeitlichen Dynamik kategorisiert, wobei eine frühe vertikale Progression innerhalb des ersten Jahres von langsameren Verlaufsformen unterschieden wird. Die dritte Dimension differenziert das Spektrum der Motoneuron-Pathologie von kombinierten Formen über dominante Beteiligungsmuster bis hin zu isolierten Varianten, die klassischen Entitäten wie der Primären Lateralsklerose oder Progressiven Muskelatrophie entsprechen.
Was sind die Ursachen von Amyotropher Lateralsklerose?
Die Ätiologie der ALS zeigt eine deutliche Dichotomie zwischen sporadischen und familiären Formen. Bei etwa 95% der Patient:innen liegt eine sporadische Erkrankung vor, deren Ursache weitgehend ungeklärt bleibt und bei der keine familiäre Häufung erkennbar ist. Die verbleibenden 5% der Fälle weisen eine eindeutige genetische Komponente auf und folgen meist einem autosomal-dominanten Erbgang.
Seit der Entdeckung des ersten ALS-Gens SOD1 im Jahr 1993 wurden weitere wichtige Gene identifiziert. C9orf72 ist mit 30-50% der familiären Fälle die häufigste genetische Ursache, gefolgt von SOD1, TARDBP und FUS. Diese Mutationen führen durch pathologische Proteinaggregation zur Neurodegeneration. Zusätzlich erhöhen genetische Risikofaktoren wie UNC13A-Varianten das Erkrankungsrisiko, während männliches Geschlecht und höheres Lebensalter etablierte demografische Risikofaktoren darstellen.
Umweltfaktoren wie Rauchen, körperliche Aktivität, Schwermetallexposition und Schädel-Hirn-Traumata werden als potenzielle Risikofaktoren diskutiert, wobei kausale Zusammenhänge bislang nicht eindeutig belegt sind. Die moderne Sequenzierungstechnologie hat weitere seltene Genvarianten identifiziert, die auf gemeinsame pathophysiologische Signalwege hindeuten und das oligogenetische Konzept der ALS-Entstehung unterstützen.
Was sind die Symptome der amyotrophen Lateralsklerose?
Charakteristische Frühsymptome und Manifestationsmuster
Das klinische Erscheinungsbild der ALS ist durch eine charakteristische progressive Muskelschwäche gekennzeichnet, die von Muskelatrophie, Faszikulationen, Muskelkrämpfen und verlangsamten Bewegungsabläufen begleitet wird. Die Erkrankung manifestiert sich typischerweise fokal und breitet sich entsprechend neuroanatomischer Verbindungen auf benachbarte Körperregionen aus, was die systematische Ausbreitung der Pathologie innerhalb des motorischen Systems widerspiegelt.
Spinale und bulbäre Verlaufsformen
Bei etwa zwei Dritteln der Patient:innen beginnt die Symptomatik spinal mit unilateraler distaler Schwäche der Extremitäten. An den oberen Extremitäten zeigt sich häufig das charakteristische „Split-Hand-Syndrom“ mit bevorzugter Beteiligung der Thenarmuskulatur und des ersten Interosseus-Muskels, während an den unteren Extremitäten typischerweise der Musculus tibialis anterior früher betroffen ist als die Wadenmuskulatur. Das verbleibende Drittel entwickelt eine bulbäre Symptomatik mit Dysarthrie, Dysphagie oder seltener Dysphonie und Kau- oder Mundschlussproblemen.
Krankheitsprogression und Spätsymptome
Im Krankheitsverlauf entwickeln sich häufig axiale Schwächen mit Kopfhalteschwäche und Haltungsproblemen. Etwa ein Drittel der Patient:innen zeigt einen Pseudobulbäraffekt mit unkontrollierbaren Lach- oder Weinepisoden. Die respiratorische Beteiligung durch Zwerchfellschwäche führt schließlich zur lebensbedrohlichen Ateminsuffizienz. Bemerkenswert ist, dass Schmerzen sowohl in frühen als auch späten Krankheitsstadien eher selten auftreten, was die ALS von anderen neurodegenerativen Erkrankungen unterscheidet.
Wie diagnostiziert man die Amyotrophe Lateralsklerose?
Klinische Diagnosestellung und aktuelle Kriterien
Die Diagnosestellung der ALS basiert primär auf klinischen Befunden und erfordert den Nachweis charakteristischer Zeichen der Schädigung sowohl des ersten als auch des zweiten Motoneurons. Während die klassischen El-Escorial-Kriterien mit ihren Abstufungen „möglich“, „wahrscheinlich“ und „definitiv“ wissenschaftlichen Zwecken dienen, haben sich für die klinische Praxis die neueren „Gold Coast“-Kriterien und die vereinfachte „1+1-Regel“ als praktikabler erwiesen. Diese erfordern entweder Zeichen beider Motoneuron-Ebenen in einer Körperregion oder Zeichen des zweiten Motoneurons in zwei Regionen.
Differenzialdiagnostische Überlegungen sind besonders in Frühstadien von Bedeutung, wenn nur fokale Symptome vorliegen. Charakteristisch ist das regionale Ausbreitungsmuster der Symptomatik, während generalisierte Faszikulationen und Muskelkrämpfe zwar häufig, aber nicht spezifisch sind. Sensibilitätsstörungen und Blasen-Mastdarm-Funktionsstörungen gehören typischerweise nicht zum Krankheitsbild, schließen eine ALS-Diagnose jedoch nicht grundsätzlich aus.
Obligate diagnostische Verfahren
Die neurologische Untersuchung unter Berücksichtigung typischer Ausbreitungs- und Paresemuster bildet das diagnostische Fundament. Die Elektromyographie mit Neurographie bleibt ein unverzichtbares Instrument zum Nachweis der Beteiligung des unteren Motoneurons, auch in klinisch noch unauffälligen Muskeln. Bildgebende Verfahren mittels kranialer und spinaler MRT dienen primär dem Ausschluss struktureller Läsionen des motorischen Systems.
Funktionelle Assessments umfassen die neuropsychologische Testung, vorzugsweise mit dem Edinburgh Cognitive and Behavioral ALS Screen (ECAS), sowie die regelmäßige Erhebung der revidierten ALS Functional Rating Scale (ALSFRSr). Die Lungenfunktionsprüfung mit Bestimmung der Vitalkapazität und nächtlicher Kapnometrie ermöglicht die frühzeitige Erkennung respiratorischer Komplikationen.
Erweiterte Diagnostik und Biomarker
Liquoruntersuchungen können durch erhöhte Neurofilament-Spiegel die Diagnose unterstützen, insbesondere bei atypischen Verläufen oder unklaren Fällen. Die 18F-FDG-Positronenemissionstomographie kann charakteristische Hypometabolismus-Muster in rolandischen und frontotemporalen Hirnregionen aufzeigen.
Genetische Testung und Beratung
Genetische Untersuchungen sind bei positiver Familienanamnese indiziert und umfassen die fünf häufigsten ALS-assoziierten Gene. Während bei sporadischen Fällen zunehmend eine genetische Testung diskutiert wird, setzt diese eine umfassende genetische Beratung voraus. Die Entwicklung genspezifischer Therapien könnte künftig die Indikationsstellung für genetische Diagnostik auch bei scheinbar sporadischen Fällen erweitern.
Wie therapiert man die Amyotrophe Lateralsklerose?
Etablierte krankheitsmodifizierende Therapien
Die therapeutischen Möglichkeiten bei der ALS bleiben trotz jahrzehntelanger Forschung begrenzt. Riluzol stellt weiterhin die Standardtherapie dar und verlängert das Überleben durch antiglutamaterge Mechanismen um durchschnittlich drei bis sechs Monate. Real-World-Daten aus Patientenregistern zeigen jedoch möglicherweise größere Überlebensvorteile von bis zu 19 Monaten. Edaravon, ein Radikalfänger, ist in mehreren Ländern außerhalb der EU zugelassen und zeigt bei selektierten Patient:innen eine Verlangsamung der funktionellen Verschlechterung um etwa ein Drittel.
Experimentelle Therapieansätze
Mehrere neue Substanzen befinden sich in verschiedenen Entwicklungsphasen. Masitinib, ein Tyrosinkinase-Inhibitor, zeigte in einer Phase-II-Studie als Zusatztherapie zu Riluzol vielversprechende Ergebnisse bei Patient:innen mit typischem Krankheitsverlauf. Die Kombination Natriumphenylbutyrat-Taurursodiol (PB-TURSO) erhielt bereits Zulassungen in den USA und Kanada, wobei die Wirksamkeitsdaten kontrovers diskutiert werden.
Multidisziplinäre Versorgung und symptomatische Therapie
Der Grundpfeiler der ALS-Behandlung bleibt die spezialisierte multidisziplinäre Betreuung, die nachweislich Lebensqualität und Überlebenszeit verbessert. Das Behandlungsteam umfasst spezialisierte Neurolog:innen, Pneumolog:innen, Gastroenterolog:innen, Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen, Neuropsycholog:innen, Ernährungsberater:innen und spezialisierte Pflegekräfte. Symptomatische Behandlungen adressieren Spastizität, Sialorrhoe, Muskelkrämpfe und emotionale Labilität. Die nicht-invasive Beatmung stellt die wichtigste lebensverlängernde Maßnahme bei respiratorischer Insuffizienz dar.
Wie ist die Prognose der Amyotrophen Lateralsklerose?
Die ALS weist eine ungünstige Prognose mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von zwei bis fünf Jahren nach Symptombeginn auf. Die Krankheitsverläufe zeigen jedoch eine erhebliche interindividuelle Variabilität, die durch verschiedene prognostische Faktoren beeinflusst wird. Ungünstige Prognosefaktoren umfassen einen bulbären Krankheitsbeginn, höheres Erkrankungsalter, kurze diagnostische Latenz und rasche funktionelle Verschlechterung. Zusätzlich wirken sich ausgeprägter Gewichtsverlust, reduzierte Vitalkapazität und das Vorliegen einer frontotemporalen Demenz negativ auf die Überlebenszeit aus. Genetische Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Prognoseabschätzung. Bestimmte Mutationen wie die Ala5Val-Variante im SOD1-Gen, C9orf72-Repeat-Expansionen oder die P525L-Mutation im FUS-Gen sind mit kürzeren Überlebenszeiten assoziiert. Darüber hinaus beeinflussen häufige genetische Varianten, beispielsweise im UNC13a-Gen, die individuelle Prognose.
Häufig gestellte Fragen zum Thema Amyotrophe Lateralsklerose
Rund um das Thema Amyotrophe Lateralsklerose stellen sich für Betroffene und Angehörige oft viele Fragen: zur Diagnose, zu Behandlungsmöglichkeiten, zu Nebenwirkungen oder zum Alltag mit der Erkrankung. In dieser Patient:innen-FAQ finden Sie Antworten auf die häufigsten Fragen.
Literatur:
- (1)
Masrori P et al. (2020) Amyotrophic lateral sclerosis: a clinical review, European Journal of Neurology, DOI: 10.1111/ene.14393
- (2)
Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: Motoneuronerkrankungen, abrufbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/030-001l_S1_Motoneuronerkrankungen_2021-11.pdf, zuletzt abgerufen am 13.11.2025.
- (3)
DGN: Erste Phänotypen-Klassifizierung bei ALS, abrufbar unter: https://www.dgn.org/artikel/erste-phanotypen-klassifizierung-bei-als, zuletzt abgerufen am 13.11.2025.
- (4)
Lu L et al. (2024) Current potential therapeutics of amyotrophic lateral sclerosis, Frontiers in Neurology, DOI: 10.3389/fneur.2024.1402962