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Autoimmunerkrankungen
Inhaltsverzeichnis

Wie funktioniert das Immunsystem?

Die körpereigene Immunabwehr stellt ein komplexes Netzwerk aus verschiedenen Organen, Zellpopulationen und Proteinen dar, das drei zentrale Funktionen erfüllt: die Eliminierung pathogener Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Parasiten, Pilze), die Neutralisation umweltbedingter Noxen sowie die Bekämpfung maligner Zellveränderungen. Die Immunantwort wird durch Antigene initiiert – körperfremde Strukturen, die an spezifische Rezeptoren der Immunzellen binden und nachgelagerte Signalkaskaden auslösen. Charakteristisch ist die Speicherung von Antigeninformationen nach Erstkontakt, wodurch bei Reexposition eine beschleunigte und verstärkte Immunreaktion ermöglicht wird. Körpereigene Oberflächenproteine werden normalerweise toleriert; deren fälschliche Erkennung als fremd führt zu Autoimmunreaktionen.

Duale Struktur der Immunabwehr

Die angeborene Immunität fungiert als erste Verteidigungslinie mit unspezifischen Abwehrmechanismen. Spezialisierte Effektorzellen wie Makrophagen und natürliche Killerzellen eliminieren Pathogene und Schadstoffe bereits beim Eindringen über Haut- und Schleimhautbarrieren.

Die adaptive Immunität entwickelt hochspezifische Antikörper gegen definierte Antigene und etabliert ein immunologisches Gedächtnis. Diese lernfähige Komponente passt sich kontinuierlich an veränderte Pathogenstrukturen an und gewährleistet dadurch auch bei mutierten Erregerstämmen eine effektive Immunantwort.

Beide Systeme arbeiten in enger Kooperation und ermöglichen so eine mehrstufige, adaptive Pathogenabwehr bei Patient:innen.

Was sind Autoimmunerkrankungen?

Autoimmunerkrankungen entstehen durch eine pathologische Immunreaktion gegen körpereigene Strukturen. Dabei werden physiologische Moleküle fälschlicherweise als fremd klassifiziert und zu Autoantigenen deklariert. Diese Fehlregulation der adaptiven Immunität resultiert aus gestörten Toleranzmechanismen und führt zu persistierenden Entzündungsreaktionen gegen nichtinfektiöse, endogene Antigene. Die chronische Immunaktivierung verursacht progressive Gewebsdestruktion, die sich entweder organspezifisch begrenzt oder als systemische Erkrankung manifestiert. Autoreaktive T-Zellen infiltrieren Zielgewebe, wobei CD8+-Zellen direkte zytotoxische Effekte ausüben und CD4+-Zellen proinflammatorische Mediatoren freisetzen. Parallel differenzieren aktivierte B-Zellen zu Plasmazellen und produzieren Autoantikörper, die über Komplementaktivierung oder antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität Gewebeschäden induzieren.

Wie häufig sind Autoimmunerkrankungen?

Autoimmunerkrankungen betreffen 3-5% der Gesamtbevölkerung und stellen ein bedeutendes Public-Health-Problem dar. Eine umfassende britische Kohortenstudie mit über 22 Millionen Personen (2000-2019) dokumentierte bei knapp einer Million Patient:innen Neudiagnosen autoimmunologischer Erkrankungen. Die Studiendaten zeigen eine Gesamtprävalenz von etwa 10% mit steigender Inzidenz.

Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 54 Jahren, wobei Autoimmunerkrankungen prinzipiell in allen Altersgruppen auftreten können. Auffällig ist die deutliche Geschlechterdisparität: 63,9% der Neudiagnosen betreffen Frauen, mit geschlechtsspezifischen Verhältnissen zwischen 10:1 und 1:1.

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Was sind Beispiele für Autoimmunerkrankungen?

Organspezifische Autoimmunerkrankungen

Systemische Autoimmunerkrankungen

  • Antiphospholipid-Syndrom

  • Systemischer Lupus erythematodes

  • Sjögren-Syndrom

  • Systemische Sklerose

Wie entstehen Autoimmunerkrankungen?

Genetische Prädisposition

Die Entwicklung autoimmunologischer Prozesse basiert auf einer komplexen genetischen Grundlage. HLA-Gene stellen die stärksten Risikofaktoren dar, wobei spezifische Allele mit verschiedenen Erkrankungen assoziiert sind (z.B. HLA-DQ2/DQ8 bei Zöliakie, HLA-DR4 bei rheumatoider Arthritis). Zusätzlich beeinflussen gemeinsame Suszeptibilitätsgene wie PTPN22, IRF5-TNPO3 und BACH2 das Risiko für multiple Autoimmunerkrankungen. Die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen von 12-67% verdeutlicht jedoch, dass genetische Faktoren allein nicht ausreichen, um Auotimmunerkrankungen auslösen.

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Umweltfaktoren

Verschiedene Umwelteinflüsse können bei genetisch prädisponierten Patient:innen Autoimmunreaktionen triggern:

  • Infektionen stellen die bedeutendsten Umwelttrigger dar. Mechanismen umfassen molekulare Mimikry (strukturelle Ähnlichkeit zwischen Pathogen- und Eigenantigenen), Epitop-Spreading und polyklonale Aktivierung. Besonders das Epstein-Barr-Virus wird mit multiplen Autoimmunerkrankungen wie systemischem Lupus erythematodes, Multipler Sklerose und rheumatoider Arthritis assoziiert.

  • Mikrobiom-Dysbalance beeinflusst die Immunhomöostase erheblich. Veränderungen der Darmflora (Firmicutes, Bacteroidetes) gehen dem Typ-1-Diabetes voraus, während orale Pathogene wie Porphyromonas gingivalis mit rheumatoider Arthritis korrelieren.

  • Chemische und medikamentöse Auslöser können körpereigene Proteine so verändern, dass sie vom Immunsystem als fremd erkannt werden. Beispiele sind Gluten bei Zöliakie, erhöhte Jodzufuhr bei Schilddrüsenerkrankungen (macht Schilddrüsenproteine immunogener) und bestimmte Medikamente, die Lupus-ähnliche Syndrome auslösen können. Diese Reaktionen sind meist reversibel nach Beendigung der Exposition.

  • Lifestyle-Faktoren wie Rauchen erhöhen das Risiko für rheumatoide Arthritis und systemischen Lupus erythematodes durch TLR-Stimulation und HLA-Interaktionen. Vitamin-D-Mangel korreliert mit erhöhter Autoimmunität, da Vitamin D als natürlicher Immunmodulator fungiert.

Wie therapiert man Autoimmunerkrankungen?

Standardtherapien

  • Konventionelle Immunsuppression: Die etablierte Therapie folgt einem Stufenschema mit entzündungshemmenden Medikamenten (NSAR, Glukokortikoide), klassischen Immunsuppressiva (Methotrexat, Ciclosporin A) und immunmodulierenden Substanzen (Beta-Interferone, Biologika). Das Grundprinzip besteht in der Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion, wobei erhöhte Infektanfälligkeit als Hauptnebenwirkung in Kauf genommen wird.

  • Biologika-Therapie: TNF-α-Blocker waren die ersten zugelassenen Biologika und werden heute bei rheumatoider Arthritis, systemischem Lupus erythematodes, Psoriasis und entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt. Weitere Targets umfassen verschiedene Interleukine, B-Zell-Marker und Komplementfaktoren.

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Neuartige Therapieansätze

  • Kombinierte Antikörpertherapien: Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse für Kombinationen wie Belimumab plus Rituximab bei Sjögren-Syndrom und systemischem Lupus erythematodes. Die Kombination verschiedener Signalwege kann synergistische Effekte erzielen, birgt jedoch auch erhöhte Nebenwirkungsrisiken.

  • Bispezifische Antikörper: Bimekizumab (IL-17A/IL-17F-Inhibitor) wurde 2021 als erster bispezifischer Antikörper für Plaque-Psoriasis zugelassen. Weitere Kandidaten wie Tibulizumab (BAFF/IL-17) und Rozibafusp alfa (BAFF/ICOSL) befinden sich in klinischen Studien und zielen auf gleichzeitige Blockade mehrerer pathogener Signalwege ab.

  • RNA-Interferenz-Therapie: siRNA-basierte Ansätze ermöglichen eine gezielte Stilllegung krankheitsrelevanter Gene. Lipid-Nanopartikel-Systeme transportieren siRNA gegen TNF-α, NF-κB oder andere Entzündungsmediatoren direkt in betroffene Gewebe. Die Technologie profitiert von Fortschritten in der COVID-19-Impfstoffentwicklung.

  • Hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT): HSCT „resettet“ das Immunsystem durch Elimination autoreaktiver Zellen und Neuaufbau der Immuntoleranz. Bei aggressiver Multipler Sklerose zeigen Studien 63% Verbesserung oder Stabilisierung, jedoch mit 5,3% transplantationsassoziierter Mortalität. Auch bei refraktärer juveniler idiopathischer Arthritis und systemischem Lupus erythematodes wurden Erfolge erzielt.

  • Antigen-spezifische Immuntherapie: Die antigen-spezifische Immuntherapie nutzt verschiedene Autoantigen-basierte Ansätze zur gezielten Toleranzinduktion. Modifizierte Peptide (APL) versetzen T-Zellen in einen inaktiven Zustand, während MHC-Autoantigen-Komplexe durch direkte T-Zell-Interaktion ohne kostimulatorische Signale antigen-spezifische Toleranz erzeugen. Moderne Biomaterial-Delivery-Systeme wie Nanopartikel, Mikronadel-Patches und lösliche Antigen-Arrays ermöglichen eine kontrollierte und zielgerichtete Autoantigen-Freisetzung.

  • Zellbasierte Therapien: Diese nutzen genetisch veränderte oder speziell aufbereitete Immunzellen zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen. CAR-T-Zellen werden genetisch so modifiziert, dass sie gezielt autoreaktive B-Zellen eliminieren oder die Bildung regulatorischer T-Zellen (Tregs) fördern. Tolerogene dendritische Zellen werden außerhalb des Körpers generiert und präsentieren Autoantigene, um T-Zell-Toleranz zu induzieren, während die Treg-Therapie durch adoptiven Transfer expandierter regulatorischer T-Zellen bereits erste vielversprechende klinische Erfolge zeigt.

Patient:innen-FAQ

Häufig gestellte Fragen zum Thema Autoimmunerkrankungen

Rund um das Thema Autoimmunerkrankungen stellen sich für Betroffene und Angehörige oft viele Fragen: zur Diagnose, zu Behandlungsmöglichkeiten, zu Nebenwirkungen oder zum Alltag mit der Erkrankung. In dieser Patient:innen-FAQ finden Sie Antworten auf die häufigsten Fragen.

Literatur:

(1)

IQWiG - Gesundheitsinformation.de: Wie funktioniert das Immunsystem?, abrufbar unter: https://www.gesundheitsinformation.de/wie-funktioniert-das-immunsystem.html

(2)

Song Y et al. (2024) Evolving understanding of autoimmune mechanisms and new therapeutic strategies of autoimmune disorders, Nature, DOI: 10.1038/s41392-024-01952-8

(3)

Wang L et al. (2015) Human autoimmune diseases: a comprehensive update, Journal of Internal Medicine, DOI: 10.1111/joim.12395

(4)

Gesundheit.av.at: Autoimmunerkrankungen: Basis-Info, abrufbar unter: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/immunsystem/autoimmunerkrankungen/was-ist-das.html#wie-erfolgt-die-behandlung-einer-autoimmunerkrankung