Dienstag, 19. März 2024
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Gendermedizin: Was Hausärt:innen wissen müssen

von Dr. rer. nat. Carola Göring

Gendermedizin: Was Hausärt:innen wissen müssen
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Am Anfang war Max Mustermann – männlich, jung, 1,75 Meter hoch, 75 Kilogramm schwer. Herr Mustermann ist auch ein häufig rekrutierter Teilnehmer an klinischen Studien. Denn was Ärztinnen und Ärzte über die Diagnose, Behandlung und Prävention von Krankheiten wissen, stammt aus Studien, die hauptsächlich an männlichen Zellen, männlichen Mäusen und Männern durchgeführt wurden. Zwar wurden in den letzten Jahren zunehmend geschlechts-abhängige Daten in verschiedensten medizinischen Fachgebieten erforscht und erhoben – 2021 waren es knapp 9.000 Publikationen in der Datenbank Pubmed, die unter dem Suchbegriff „Gender“ UND „differences“ angezeigt wurden. Trotzdem ist die Datenlage zu therapierelevanten geschlechtsassoziierten Unterschieden immer noch lückenhaft und das bereits vorhandene Wissen wird in Klinik und Praxen noch zu selten umgesetzt – auch weil es bisher in den existierenden Leitlinien kaum aufscheint. 
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Was ist Gendermedizin?

Die Gendermedizin ist eine junge Wissenschaft. Daher fehlen nach wie vor Daten zum weiblichen Geschlecht und zu non-binären, trans- oder inter-identen Personen. Hier besteht Nachholbedarf, sowohl in der Forschung als auch was die Umsetzung der bereits vorliegenden Erkenntnisse in der Praxis angeht. Denn Frauen, Männer und andere Geschlechter haben Anspruch auf die bestmöglichste, geschlechtsspezifische Medizin – die Gendermedizin. Das erfordert einen Bewusstseinswandel und weitere Forschung.

Gendermedizin am Beispiel Schlaganfall

Frauen sind in klinischen Studien zu Schlaganfällen unterrepräsentiert, wie eine aktuelle Metaanalyse zeigt, die 281 Schlaganfallstudien mit knapp 600.000 Teilnehmer:innen evaluiert hat. (1) Davon waren 37,4% Frauen. Der Anteil an Frauen, die einen Schlaganfall erleiden, liegt jedoch bei 48%. Die Autor:innen schlussfolgern, nur wenn genug Frauen in die Studien eingeschlossen werden, lässt sich für Frauen die untersuchte Behandlung mit ausreichender Evidenz beurteilen.

Allerdings darf man nicht den Fehler machen, aus der Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien und dem Wissen, dass es Frauen nach einem Schlaganfall häufig schlechter geht als Männern, darauf schließen, dass Frauen schlechter behandelt werden. Denn Frauen sind im Durchschnitt etwa 5 Jahre älter als Männer, wenn sie einen Schlaganfall bekommen. Dies könnte ein Grund für die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien sein, da hier häufig eine Altersgrenze von 80 Jahren angelegt wird. Weiter müssen auch die verschiedenen Risikofaktoren für einen Schlaganfall in Betracht gezogen werden: So haben Frauen häufiger Bluthochdruck und Vorhofflimmern verglichen mit Männern.
 
 

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Das kann in der 2021-Leitlinie „Behandlung des akuten Schlaganfalls“ in Kapitel Nr. 9 „geschlechtsspezifische Unterschiede in der Schlaganfall-Akutbehandlung“ nachgelesen werden. 

Brauchen Frauen eine andere Therapie als Männer nach einem Schlaganfall? Die Autor:innen der Leitliniengruppe sagen „Nein“. Frauen mit akutem Schlaganfall sollten genauso behandelt werden wie Männer. Vielmehr warnen sie davor Frauen wirksame Therapieverfahren aufgrund des Geschlechtes vorzuenthalten.

Denn das hat Auswirkungen: In Deutschland hatten Frauen nach einem Schlaganfall eine erhöhte Krankenhaussterblichkeit: 2017 verstarben 8,8% der Frauen und 5,8% der Männer. (2)

Sex und Gender – Eine Begriffsklärung 

Der Begriff Geschlecht umfasst sowohl das biologische Geschlecht als auch das soziokulturelle Geschlecht. Damit ist der Begriff „geschlechtsspezifische Medizin" oder besser noch "geschlechtssensible Medizin“ (GSM) viel umfassender als der häufig verwendete Begriff „Gendermedizin“. Denn erstens bezeichnet der aus dem englischen Sprachraum kommende Begriff „gender“ ausschließlich die soziokulturellen Aspekte des Geschlechts. Daher wird im englischen häufig auch korrekterweise von„sex-and-gender-specific-medicine" gesprochen. Es findet sich jedoch auch sehr häufig die inhaltlich unkorrekte Abkürzung „gender-medicine“. 

Zweitens ist anzumerken, dass geschlechtsspezifisch tatsächlich bedeutet: „nur“ für dieses Geschlecht, Beispiel: der Uterus ist ein geschlechtsspezifisches Merkmal. Unterschiede, das heißt Merkmale, die zwischen den Geschlechtern unterschiedlich stark ausgeprägt sind, werden als geschlechts-abhängig oder geschlechts-sensibel bezeichnet, Beispiel: der Muskelanteil am Gesamtkörpergewicht ist geschlechtsabhängig.

Was ist geschlechtssensible Medizin? 

Die geschlechtssensible Medizin untersucht, wie sich Prävention, Diagnostik, Behandlungen, Ergebnisse, aber auch Wahrnehmung und Präsentation von Krankheiten zwischen Mann, Frau und anderen Geschlechtern unterscheiden. Auf biologischer Ebene finden sich solche Unterschiede zum Beispiel in der Genetik, speziell den Geschlechtschromosomen, bei den Hormonen, im Stoffwechsel und damit in jeder Zelle. Maßgeblich sind jedoch auch Umwelt, Kultur, soziale, gesellschaftliche und psychologische Einflüsse. Dabei interagieren all diese körperlichen und psychosozialen Faktoren lebenslang und beeinflussen Gesundheit und Wohlbefinden. (3)

Ein wichtiger körperlicher Unterschied ist, dass sich Frauenkörper im Leben stärker und häufiger als Männerkörper verändern. Allein hormonell bedingt unterscheidet man 4 verschiedene Phasen im Leben der Frau: Pubertät, Fertilität, Menopause und Postmenopause. Dazu kommen verschiedene gesellschaftliche Rollen und seelische Belastungen. Zu letzterem gehören auch die häusliche Gewalt und die sexualisierte Gewalt, hier sind vor allem Mädchen und Frauen das Opfer. Das sind schwierige, aber auch sehr wichtige Themen, gerade in der hausärztlichen Praxis.
 
 

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Unterschiede bei fast allen Krankheiten

Gender und biologisches Geschlecht werden im medizinischen Alltag in der Regel zu wenig beachtet, obwohl es deutliche Abweichungen zwischen Frauen und Männern gibt. Deutliche Geschlechterunterschiede finden sich im Immunsystem und bei den meisten chronischen Krankheiten wie Herzerkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Lungenerkrankungen, Schlaganfall, Alzheimer, Typ-2-Diabetes, chronische Nierenerkrankungen, chronische Lebererkrankungen sowie bei Depressionen und Suiziden. (4)

Frauen manifestieren häufiger Autoimmunerkrankungen und Schmerzsyndrome und im Alter neurodegenerative Veränderungen. Auch entwickeln sie häufiger Depressionen und funktionelle Einschränkungen. Das Schmerzempfinden und Stressantworten unterscheiden sich meist deutlich zwischen den Geschlechtern. Bei Männern werden „weiblich konnotierte“ Erkrankungen wie Depressionen und Osteoporose seltener erkannt. (3)

Pharmakologie der Geschlechter 

Viele Arzneimittel wirken bei Frauen anders als bei Männern. Die individuellen Wirkungen und Nebenwirkungen hängen von verschiedenen pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Faktoren ab. Diese können zurückgeführt werden auf die Genetik (XX oder XY-Chromosomen), unterschiedliche epigentische Veränderungen und die Wirkung von Sexualhormonen. So sorgen Unterschiede in Bioverfügbarkeit, Verteilung, Metabolisierung und Elimination von Arzneimitteln dafür, dass Medikamente von Frauen in anderem Tempo und auch anderer Menge resorbiert, verteilt, verstoffwechselt und ausgeschieden werden. (5, 6)

Wichtig sind auch hier Gender-Aspekte, denn Frauen haben häufig eine bessere Compliance als Männer. Auch nehmen Frauen häufiger freiverkäufliche Arzneimittel ein, die möglicherweise mit verordneten Substanzen interagieren. All dies gilt es zu berücksichtigen. Die Tabelle führt einige häufig eingesetzte Medikamente auf, die bei Frauen anders wirken als bei Männern. Es gibt jedoch in Deutschland keine Übersicht bzw. Datenbank, die solche Unterschiede in Wirkungen oder Nebenwirkungen systematisch erfasst. Anders ist dies in Schweden, hier gibt es mit „Janusmed Sex an Gender“ eine Datenbank, die auch in englisch zur Verfügung steht. Hier kann in einer Suchmaske nach Substanznamen gesucht werden. Sind geschlechtsspezfische Unterschiede bekannt, werden diese aufgeführt (7).

Hier gelangen Sie zur Suchmaske der englischsprachigen Datenbank.
 
 

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Was bedeutet genderspezifische Medizin für die Therapie und den Therapieerfolg?

Wie schon im Beispiel Schlaganfall ausgeführt, lassen sich in Zusammenhang mit dem Geschlecht Über-, Unter- und Fehlversorgung mit Arzneimitteln nachweisen. Das birgt Risiken für die Betroffenen und verursacht unnötige Kosten im Gesundheitssystem.

Hier 2 Beispiele für Medikamenten-Unterversorgungen:
 
  • Vorhofflimmern: Frauen erhalten nach einer US-amerikanischen Studie seltener eine leitliniengerechte Therapie mit Antikoagulanzien als Männer. (8) 
  • Herzinsuffizienz: Frauen werden seltener leitliniengemäß therapiert. Dabei können auch unterschiedliche Nebenwirkungsprofile bei Frauen und Männern eine Rolle spielen. Wie eine neuere Studie zeigt, könnten Medikamente gegen Herzinsuffizienz bei Frauen sehr wahrscheinlich mit der Hälfte der in den Leitlinien empfohlenen Dosis ihren vollen Effekt erreichen. (9)

Fazit zur Gendermedizin

Wünschenswert ist insgesamt eine stärkere Beachtung der biologischen und soziokulturellen Unterschiede in der Medizin. Insbesondere ist die Aufnahme geschlechtsbezogener Empfehlungen zu klinisch relevanten Besonderheiten in Leitlinien zu fordern, was die Symptomausprägung, unterschiedliche Pathophysiologien und auch die Wirkungen, Nebenwirkungen und Interaktionen von Arzneimitteln betrifft. Denn es geht um eine bestmögliche Versorgung für alle Geschlechter.

Einige Substanzen, die bei Frauen anders wirken als bei Männern

Substanz bzw. Substanzklasse Auswirkung
ACE-Hemmer (6) schlechtere Wirksamkeit bei Frauen, mehr Reizhusten
Acetylsalicylsäure (10) schwächer ausgeprägte Thrombozytenaggregation; in der Primärprävention Einfluss auf die Rate ischämischer Schlaganfälle, nicht aber auf die Herzinfarktrate 
Antiarrhythmika, QTc-Zeit verlängernde Pharmaka (6) mehr Torsade-de-pointes-Tachykardien bei Frauen
Antikoagulanzien und Thrombolytika (6) mehr Blutungskomplikationen bei Frauen
Antipsychotika (10) besseres Ansprechen, geringere Dosis nötig (cave Rauchen und Begleitmedikamente!)
Betablocker (6) mehr Nebenwirkungen bei Frauen, v.a. Myopathie
Digitalis (6) höhere Sterblichkeit bei Frauen
Diuretika (6) werden häufiger bei Frauen eingesetzt, mehr NW bei Frauen
Morphin (5) wirkt bei Frauen stärker analgetisch als bei Männern
SSRI, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (5) prämenopausale Frauen sprechen besser auf die Antidepressiva an als Männer, Frauen brechen aufgrund von NW häufiger die Therapie ab als Männer
Statine (11) Frauen weisen häufiger Statinintoleranz auf als Männer, insbesondere Myopathie
Zolpidem (5) Frauen bauen Zolpidem deutlich langsamer ab als Männer; die FDA hat die zugelassene Dosis bei Frauen von 10 auf 5 mg reduziert

Redaktion journalmed.de

Literatur:

(1) Carcel C et al. Neurology Publish Ahead of Print, 13. Oktober 2021, DOI: https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000012767.
(2) Ringleb P et al. Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: https://dgn.org/wp-content/uploads/2021/05/030_046_LL_Akuttherapie_Ischaemischer_Schlaganfall_2021.pdf; abgerufen am 26.05.2022.
(3) Kautzky-Willer A, Bundesgesundheitsblatt 2014;57:1022-1030; www.doi.org/10.10007/s00103-014-2011-7.
(4) Mauvais-Jarvis F et al. Lancet 2020;396:565-82. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31561-0.
(5) Julia Schreitmüller: Pharmakologische Grundlagen, Stand 22-04-26 in https://gendermedwiki.uni-muenster.de/mediawiki/index.php/Pharmakologische_Grundlagen.
(6) Regitz-Zagrosek: Bundesgesundheitsblatt 2014;57:1067-73, www.doi.org/10.1007/s00103-014-2012-6.
(7) Karlsson Lind et al. Biology of sex differences 2017;8:32, www.doi.org/10.1186/s13293-017-0155-5.
(8) Eckman MH et al. J Am Geriatr Soc 2016;64(5):1054–1060. 
(9) Santema BT et al. Lancet 2019;394:1254–63.
(10) Thürmann P. Z Allg Med 2006;82:380-384.
(11) Skilving N et al. Eur J Clin Pharmacol 2016,72:1171-1176.

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